Jura und die Digitalisierung : Bereit für Legal Tech
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Neues Zeitalter: Das Tablet gehört zum Juristenalltag. Bild: Getty
Die Digitalisierung stellt Richter und Anwälte vor neue Aufgaben. Müssen sie künftig programmieren können? Und was heißt das für Jurastudenten?
Daniella Domokos ist eine junge Frau mit einer alten Liebe zur Technik. Und das nicht trotz, sondern gerade wegen ihres Jurastudiums. Erst hieß es: Niemand kommt mehr an der Digitalisierung vorbei – und Domokos bringt sich kurzerhand die Grundlagen der Programmiersprache Python sowie HTML bei. Dann: Das autonome Fahren hat in Deutschland überhaupt nur eine Chance, wenn Juristen die Technik dahinter verstehen – die gebürtige Ungarin gründet das Blog „All about Legal & Technologie“.
Und schließlich: Zu diesem Thema fehlt noch ein Lehrbuch für Studierende – die frischgebackene Juristin veröffentlicht einen Gliederungsvorschlag, schreibt auch gleich das Vorwort und bittet, Stichwort „Plattform-Ökonomie“, um Kooperation: „Die AutorInnen erbringen ihre Anteile ehrenamtlich, die Qualitätskontrolle wird von der Community betrieben und lesen darf jeder.“
Seit einer Weile allerdings gibt sich die Community zurückhaltend. „Das liegt nur daran, dass ich in den letzten Monaten so viel um die Ohren hatte“, stellt Domokos klar. Im nächsten Schritt will sie auf Lehrbeauftragte an bundesdeutschen Hochschulen zugehen, die sich mit genau den Fragen beschäftigen, die sie auch umtreiben: Welche Digitalisierungskompetenzen brauchen die Juristen von morgen, wie sind neue technologische Entwicklungen rechtlich zu bewerten, und was ist von „Coding for Lawyers“ zu halten? „Ich kann das Buch ja nicht allein stemmen, aber ich bin gut vernetzt“, sagt die 24 Jahre alte Juristin und erzählt von einer „Legal-Tech-Szene“, zu der auch selbständige Anwälte, Ministerialbeamte und Doktoranden gehörten. „Das ist irgendwann auf Konferenzen nur noch ein Klassentreffen – man trifft immer wieder auf dieselben Leute.“
Rechtssichere Verträge ohne Notar
„Legal Tech“ ist die gängige Abkürzung für „Legal Technology“, gelegentlich steht sie auch für „Legal Services & Technology“ und in jedem Fall für die Frage, wie Computer den Menschen bei der Findung und Anwendung des Rechts unterstützen können. Verfechter der deutschen Sprache wählen den Begriff „Rechtsinformatik“, aber der hat einen anderen Beiklang, wie Martin Fries, Privatdozent an der Juristischen Fakultät der Universität München (LMU), verdeutlicht: „Die vor allem in den 1970ern und 80ern betriebene Rechtsinformatik war ein sehr universitär-theoretisches Thema, während die aktuelle Legal-Tech-Bewegung nicht von der Uni, sondern aus der Gründerszene kommt.“
Software, die Sammelklagen im Abgasskandal oder die automatisierte Beratung zu Fluggastrechten unterstützt, sind da nur populäre Aushängeschilder. Unterstützung erhielt die noch junge Branche im November vergangenen Jahres vom Bundesgerichtshof: In einem Grundsatzurteil entschieden die Richter, dass Mieter ihre Interessen von Internet-Rechtsdienstleistern vertreten lassen dürfen. Solche Portale haben üblicherweise keine Rechtsanwaltslizenz, sondern setzen die Verbraucherrechte für ihre Nutzer als Inkassounternehmen durch. Kosten entstehen für den Mieter nur bei Erfolg. Für die Szene war das ein großer Erfolg – auch wenn Unternehmen im Einzelfall prüfen müssen, wie weit das Urteil wegen der unterschiedlichen Rechtsgebiete und Geschäftsmodelle auf sie passt.
In der Zukunft wird es auch um Tools gehen, die etwa die Erstberatung durch den Anwalt automatisieren oder rechtssichere Verträge ohne Notar abschließen können – nämlich datenbankbasiert und mittels Blockchain-Technologie. Noch ist das Theorie, aber wenn die Jurastudierenden von heute in ein paar Jahren ihr Abschlusszeugnis in den Händen halten, wird sich der Arbeitsmarkt verändert haben, ist sich Fries sicher: „Alles was mit Software möglich ist, findet seinen Weg.“
In den Legal-Tech-Vorlesungen und -Seminaren, die der Zivilrechtler seit über drei Jahren an unterschiedlichen Hochschulen gibt, wirft er gern eine interaktive Karte an die Wand: Der Datenbank „Legal Tech in Deutschland“ entnommen, zeigt sie die bundesweite Verteilung von Unternehmen, die mit der Verbindung von Recht und Informatik Geld verdienen wollen – mit Hotspots in Berlin oder im Ruhrgebiet. Aber Fries verfolgt nicht nur die Dynamik der Start-up-Szene, sondern auch universitäre Aktivitäten, vom Hackathon bis zum Vortrag: „Legal Tech im Wintersemester 2019/20“ heißt die Linksammlung, die er aktuell bei der Juristencommunity des Beck-Verlages eingestellt hat. Der Privatdozent kommt zu dem Schluss: „In der Start-up-Branche dürfte der Hype vorbei sein, an der Uni gewinnt das Thema gerade erst an Fahrt.“
Zu den Legal-Tech-Vorreitern in Deutschland zählen Fries wie auch Domokos die private Bucerius Law School in Hamburg. Sie bietet neben regelmäßigen öffentlichen Vorträgen und einer Summer School für Studierende im Wahlpflichtbereich ein Technologiezertifikat, das vier Seminare in den Bereichen Ethik, Informatik, Programmierung und Statistik umfasst. Gute Verbindungen in die Vereinigten Staaten, wo der Markt für Technologieanwendungen weiter ist als in Deutschland, waren dafür ebenso ausschlaggebend wie der Status einer „Privatuni, die aus wesentlich mehr Ressourcen schöpfen kann“, gibt Domokos zu bedenken. „Das kann man nicht mit staatlichen Universitäten vergleichen.“
Vorsicht vor dem Roboter-Richter
Dabei hat sich an staatlichen Hochschulen schon etwas getan. Entweder, weil engagierte Hochschullehrer das Thema vorantreiben oder studentische Initiativen wie in Frankfurt, München oder Tübingen sich vernetzen, Praktiker einladen und Veranstaltungen organisieren. Manchmal ist es aber auch beides: So hat die Professorin Frauke Rostalski an der Universität zu Köln im März 2019 ein „Legal Tech Lab“ initiiert, ein interdisziplinäres studentisches Labor, das sich mit Chancen und Risiken von Legal Tech befasst. Ein Thema wie gemacht für die Wirtschaftsinformatikerin Jin Jenny Ye, die in ihrem Erststudium immer wieder auf juristische Fragestellungen stieß: Wer trägt die Verantwortung, wenn das autonom fahrende Auto doch mal eine Fehlentscheidung fällt, beispielsweise.
Im Lab engagiert sich die 22 Jahre alte Studentin aktuell in zwei Arbeitsgruppen: Bei „Talking Legal Tech“ will sie Kommilitonen und Referendaren neue juristische Arbeitsweisen etwa in Form von Podcasts näherbringen. „Man kann scheinbar auch ganz gut zehn Semester lang Jura studieren, ohne jemals mit dem Thema Digitalisierung in Kontakt zu kommen“, sagt Ye. Das habe Folgen für die eigene Beschäftigungsfähigkeit: „Es wird uns alle in der Zukunft betreffen.“ Wie intelligente Technologie Juristen entlasten könnte, untersucht Ye in ihrer zweiten Arbeitsgruppe „Smart Sentencing“, zu Deutsch „gerechte Strafzumessung“: Es geht um die Möglichkeit, vergleichbare Urteile zu finden. Wenn aber ein Instrument mit Hilfe Künstlicher Intelligenz Urteile ausliest, wie weit ist es dann noch bis zu einer Software, die möglicherweise mit Voreingenommenheiten arbeitet und sogar Urteile fällt?
Die Jurastudentin im dritten Semester stellt klar: „Der Robo-Judge sollte meines Erachtens niemals eingeführt werden.“ Recht sei schließlich von Menschen für die Gesellschaft gemacht – ein Normrahmen, über den auch zukünftig besser Menschen als Maschinen urteilen sollten. Dass jedes System mit Daten aus der Vergangenheit gefüttert werde, könnte aber in der Tat zu Problemen führen, so Ye. „Man sollte nur Tools verwenden, deren Entscheidungsprozesse nachvollziehbar und korrigierbar sind.“ Bis zum fertigen Programm hat ihre Arbeitsgruppe sowieso noch einige Semester vor sich: Bisher veröffentlichen nur wenige deutsche Gerichte ihre Urteile. „Wir machen uns auch Gedanken, wie Urteile zukünftig verfasst sein müssten, um für mehr Transparenz zu sorgen.“
Ein wenig Pflichtprogramm in Legal Tech für alle und mehr Zusatzangebote für Interessierte, mit dieser Faustformel sieht sich Ye im Einklang mit anderen studentischen Initiativen: „Es fehlen strukturierte und gut auffindbare Angebote für Juristen.“ Das hat auch damit zu tun, dass nicht klar ist, wie der Modebegriff abgedeckt werden soll. Im Rahmen der bisherigen Prüfungsordnung, in Zusatzveranstaltungen, als thematischer Exkurs im Seminar zur Rechtstheorie oder gar als zusätzliches Prüfungsfach?
Mit einem neuen Zusatzstudium „Informatik und Digitalisierung“, kurz „DigiZ“ setzt die Universität Bayreuth eigene Akzente, bewusst fernab der „Legal-Tech-Bubble“, sagt Rechtsprofessor Michael Grünberger, der den Studiengang betreut. „Über Legal Tech wird viel geredet, gemeint ist aber häufig nichts anderes als Automatisierung.“ Das betreffe einfache juristische Tätigkeiten oder Berufe wie Sachbearbeiter in Versicherungen, die wegrationalisiert werden, sagt der Fachmann für Technikrecht. Die eigentliche Herausforderung liege jedoch an anderer Stelle: „Wie gehen wir mit dem Einsatz von autonomen Systemen sowohl in unserer eigenen Profession als auch in der Gesellschaft um?“
Internet statt Bücherwälzen
Diese Frage sollten DigiZ-Absolventen beantworten und normativ gestalten können. Noch stehen sie in Bayreuth am Anfang ihres Jurastudiums und wollen zusätzliche Vorlesungen in Informatik, Künstlicher Intelligenz und IT-Sicherheit belegen. „Man muss die Sprache der Informatik verstehen, aber nicht unbedingt sprechen können“, sagt Grünberger und meint: Kein angehender Jurist muss programmieren können, aber jeder, der über die Regulierung von Algorithmen nachdenkt, sollte wissen, wie diese funktionieren. „Es ist die Aufgabe von Juristen und Juristinnen, Innovationen zu ermöglichen, aber auch ihre Risiken einzufangen und bestimmten Akteuren zuzuweisen.“ Flankierende Veranstaltungen mit externen Legal-Tech-Fachleuten sollen das Angebot abrunden.
Schon jetzt ist sich Grünberger sicher, dass der Studiengang wie andere interdisziplinäre juristische Studiengänge in Bayreuth ein Erfolg sein wird. Er sieht nur einen einzigen Nachteil: „Man muss Leistungen erbringen in Veranstaltungen, die nicht zum Kanon der juristischen Ausbildung gehören. Das setzt Zeit, Disziplin und Mühe voraus.“ Wohlgemerkt: neben einem Studium, in dem niemand über Langeweile klagt, in einer gerade mal um ein Semester verlängerten Regelstudienzeit. Um zukünftig Druck herauszunehmen, setzt der Professor auf die nächste Reform der Juristenausbildung: „Wir sollten stärker Kompetenzen als gelerntes Wissen abfragen.“ Das wäre ganz im Sinne von Daniella Domokos. Im Sommer hat sie die „Erste Juristische Prüfung“ hinter sich gebracht und spricht seitdem von Bulimielernen, Effizienzverlust und die Vergabe digitaler Chancen: „Ich habe heute die Möglichkeit, alles im Internet schneller und effizienter nachzuschlagen, als in einem dicken Buch mit ganz dünnen Seiten stundenlang nach der Lösung für mein Problem zu suchen.“
Legal Tech ist für sie daher ein weites Feld: „Es geht um die Digitalisierung der Branche.“ Auf die seien junge Menschen, auch wenn man sie „Digital Natives“ nenne, keinesfalls per se vorbereitet: „Die Transferleistung, das Smartphone nicht nur für die Freizeit, sondern auch für den Beruf zu nutzen, ist nicht ausgeprägt.“ Domokos selbst will das Referendariat erst einmal nicht antreten, sondern frei arbeiten: als Digitalisierungs- und Innovationsberaterin.