Warum schauen die Leute Fußball? Selbst wenn das Spiel in einem Land wie Qatar stattfindet? Weil sie eben vorher nicht wissen, wie es ausgeht. Dass diese völlig unwissenschaftliche Einsicht Sepp Herbergers immer noch Bestand hat, müsste der Sportwissenschaft eigentlich ein Ärgernis sein. Schließlich setzt sie in ihrem Spezialgebiet, der Fußballforschung, nicht unerhebliche Mittel dafür ein, das Spiel noch besser zu verstehen, noch besser zu analysieren, ja am Ende gar berechenbar zu machen.
Man muss es den Forschern hoch anrechnen, dass sie die Vergeblichkeit ihrer diesbezüglichen Bemühungen dem Publikum nicht vorenthalten. Das zeigt sich exemplarisch in einer der kontroversesten Subdisziplinen der Sportwissenschaft: Der Elfmeterforschung. Längst muss hier der 2014 in einem eigenen Themenheft der „Zeitschrift für Sportpsychologie“ dokumentierte Stand der Forschung als überholt gelten. Schließlich konnten die Möglichkeiten von „Big Data“ bei der entscheidenden Interaktion von Schütze und Torwart damals noch gar nicht genutzt werden.
1067 Elfmeter aus 14 Turnieren ausgewertet
Zahlreiche Faktoren sind inzwischen intensiv erforscht worden, etwa welchen Einfluss der Anlaufwinkel, die Links- oder Rechtsfüßigkeit des Schützen und eine gebärdenreiche Torwartgestik auf den Ausgang des Duells haben. Unerforscht blieb dagegen die Frage, ob sich die Teamstärke des Schützen positiv auf dessen Erfolg bei einem Elfmeterschießen auswirken könnte. Auch diese Forschungslücke ließ sich vor zwei Jahren mit einem Beitrag aus der Deutschen Sporthochschule in Köln endlich schließen. Die bemerkenswerte Ehrlichkeit, mit der die Forscher ihre Befunde präsentierten, wirft am Ende doch die Frage auf, welchen Sinn das Ganze hat. Schließlich habe die Auswertung von 1067 Elfmetern aus 14 Turnieren ergeben, dass der Effekt der Teamstärke nahezu auf dem Niveau des Zufalls liegt.
Ist also doch alles nur Zufall im Fußball? Selbstverständlich nicht. Jedenfalls nicht in der englischen Liga. Die gleichen Kölner Forscher haben nämlich vergangenes Jahr herausgefunden, dass der Einfluss des Zufalls beim erfolgreichen Torschuss zumindest auf der Insel abgenommen hat. Zwar hat die Auswertung von 7263 Toren aus sieben Saisons des englischen Fußballs ergeben, dass fast die Hälfte davon Zufallstreffer waren, doch immerhin sei diese Rate insgesamt im Abnehmen. Das gelte allerdings nicht für schwächere Teams, hier spiele der Zufall noch eine größere Rolle. Deren Trainer sollten daher ihre Teams taktisch dazu anleiten, „unkontrollierbare Situationen“ im Spiel tatsächlich ganz bewusst herbeizuführen, um damit den Zufall gewissermaßen zu erzwingen. Über die Praxistauglichkeit dieser Anregung wollen wir uns an dieser Stelle lieber nicht äußern.
Gerade am englischen Fußball hat die Kölner Fußballforschung kürzlich wieder ihre unbestreitbare Stärke demonstriert: die Ersetzung laienhafter Fußballvorurteile und selbst hartnäckiger Fußballmythen durch wissenschaftliche Fakten. In einer Studie von 2020 konnten sie anhand von allen 696 seit 1976 in Welt- und Euromeisterschaften geschossenen Strafstößen nachweisen, dass es keinen englischen „Elfmeterfluch“ gibt. Zwar kamen die „Three Lions“ nicht annähernd an die 85 Prozent verwandelter Elfer des Spitzenreiters Deutschland heran, doch ihre Quote von nur vierzig Prozent wiche statistisch nicht signifikant ab von den durchschnittlich sechzig Prozent verwandelten Strafstößen im Elfmeterschießen. Das Problem sei nur, dass die englischen Nationalspieler vermutlich selbst vom Mythos ihrer eigenen Fehlbarkeit so überzeugt seien, dass am Ende dann doch wieder Deutschland gewinnt.
Auch dieser hartnäckige Eindruck spricht dafür, dass man sich den Effekt der Fußballforschung auf den Fußball als statistisch nicht übermäßig signifikant vorstellen sollte. Dem Zuschauer sollte das durchaus recht sein.