Türkeistudien : Flucht als akademisches Geschäftsmodell?
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Traumziel Berlin: Das Palais am Festungsgraben war das Wunschobjekt mehrerer Flüchtlingsinitiativen Bild: Picture Alliance
Hat sich um ein Netzwerk für Exilwissenschaftler eine akademische Industrie aufgebaut, die ein Fach intellektuell auszehrt? Eine Polemik, die das behauptet, wirbelt die Türkeistudien auf.
Es geschieht selten, dass Texte über das deutsche Universitätsgeschehen in der Türkei Furore machen. Die Polemik, die der Turkologe David Selim Sayers und seine Frau Evrim Emir-Sayers im November 2021 auf der Website des Paris Institute für Critical Thinking publizierten, gehört zu diesen Ausnahmen. Sie wurde von der zentralen Nachrichtenagentur Anadolu aufgegriffen, in Blogs und Zeitungen kommentiert und je nach journalistischem Temperament als Lagebeschreibung der neoliberalen Universität oder der postkolonial entkernten Türkeistudien diskutiert. In Deutschland blieb es auffällig ruhig. Hier wurde der Essay, den innerhalb der Turkologie fast jeder kennt, Gegenstand eines Gerichtsverfahrens.
Was macht ihn so interessant? Die beiden Autoren vertreten auf 25 pointiert geschriebenen und mit 164 Fußnoten versehenen Seiten die These, um Flucht und Migration habe sich eine akademische Industrie entwickelt, die Mitgefühl zum Geschäftsmodell gemacht habe. Sie beschreiben, wie die Türkeistudien darüber zur Hülle von Finanz- und Versorgungsinteressen ideenloser Wissenschaftsnetzwerker geworden seien, und schließen mit einem dunklen Lagebild der Turkologie, die, je mehr sie in den Sog dieses Wissenschaftler-Typus geraten sei, an intellektueller Substanz verloren habe.
Der Vorwurf richtet sich direkt an die Turkologie-Professorin Kader Konuk und die von ihr geleitete Academy in Exile. Die an der Universität Duisburg-Essen lehrende Konuk rief das Flüchtlingsprojekt im September 2017 ins Leben, um den türkischen „Academics for Peace“, die nach einer Protestaktion gegen die Kurdenpolitik von Präsident Erdogan unter Druck geraten waren, ein wissenschaftliches Refugium zu bieten. Mit mehr als fünfzig geförderten Stipendiaten und mehr als fünf Millionen eingeworbenen Euro ist das von der Universität Duisburg-Essen, dem Forum Transregionale Studien Berlin und dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) betriebene und am KWI angesiedelte Drittmittelprojekt den Zahlen nach eine Erfolgsgeschichte.
Repression und Verfolgung
Für die Autoren ist es dagegen nur eine moralisch verkleidete Drittmittelmaschine, die Gelder nicht nach wissenschaftlicher Qualifikation und politischer Gefahrenlage, sondern nach Nähe zum Netzwerk verteile. An erster Stelle steht für sie wiederum Kader Konuk, die in Personalunion Direktorin, Beirätin und Mitglied der Auswahlkommission ist oder war. Die Finanzgeber, allen voran die Volkswagenstiftung, die das Drittmittelprojekt mit mehreren Millionen Euro gestützt hat, akzeptieren dies offensichtlich. Sollte eine Initiative, die sich gegen die Folgen von Autokratie und Willkürherrschaft richtet, nicht mehr Wert auf Ämterteilung legen?
An manchen Stellen schießt die Streitschrift über das Ziel hinaus. Tatsächlich gingen die Stipendien in den ersten beiden Jahren, wie die Autoren kritisieren, fast ausschließlich an Mitglieder der Akademiker für Frieden. Das lässt sich jedoch pragmatisch begründen. Die Friedensakademiker wurden zu dieser Zeit von der türkischen Regierung verfolgt. Die Repression endete, als sie der oberste türkische Gerichtshof im Juli 2019 für Unrecht erklärte. Die Gefahr war gebannt, die Stipendien der Akademie wurden auf andere Länder ausgeweitet.
Auf der Website der Academy in Exile wird der Essay ohne Begründung als politisch motivierte Trollaktion dargestellt. Konuk forderte gerichtlich die Löschung von 25 Passagen sowie eine Unterlassungserklärung von David Selim Sayers, den sie mit einem NS-Vergleich in die rechte Ecke zu rücken versuchte. Nach einem Urteil des Landgerichts Essen musste Sayers sieben Passagen schwärzen. Die meisten betreffen polemische Spitzen. Die Löschung wurde von dem Gericht dagegen zurückgewiesen. Der gekürzte Essay ist auf der Homepage des von dem Autorenpaar geleiteten Paris Institute for Critical Thinking weiter einsehbar. Was ist nun dran an der Kritik?
Bruch mit der Bestenauslese
Um das zu beurteilen, muss man fast drei Jahre zurückgehen. Der Stein war ins Rollen gekommen, als sich David Selim Sayers im August 2019 für eine Assistenzprofessur in der Duisburg-Essener Turkistik bewarb und bemerkt haben will, dass ihm schlechter qualifizierte Kandidaten aus dem Umfeld der Academy in Exile vorgezogen worden seien. Sayers legte beim Universitätspräsidenten Beschwerde ein. Die Universität brach das Berufungsverfahren aufgrund erheblicher Mängel ab, will diese auf Nachfrage jedoch nicht näher benennen.