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Foto: Felix Schmitt

Praxis zu verschenken

Von KIM BJÖRN BECKER, Groß-Umstadt, STEFAN LOCKE, Rothenburg, und RÜDIGER SOLDT, Hausach
Foto: Felix Schmitt

09.01.2020 · Nur wenige Ärzte wollen sich nach dem Studium in ländlichen Gegenden niederlassen. Und wenn sie es tun, wird ihnen häufig viel abverlangt.

Die Fahrt von der Praxis zum Wohnhaus der Patientin dauert nur wenige Minuten, einmal quer durch den Ort. Der Arzt Sebastian List kennt den Weg auswendig, er ist hier aufgewachsen. In Groß-Umstadt leben gut 21.000 Menschen, viele Einfamilienhäuser säumen die Straßen, im Zentrum gibt es ein paar Geschäfte und Restaurants, draußen an der Bundesstraße grenzt das Schnellrestaurant an einen Discounter. Der Ort liegt im nördlichen Odenwald. Darmstadt und Aschaffenburg sind jeweils etwa eine halbe Autostunde entfernt, bis Frankfurt ist es eine Stunde. Nicht wirklich Land, aber doch ländlich.  

Die Patientin ist 95 Jahre alt und wird zu Hause betreut, in einer kleinen Wohnung im Souterrain. An diesem Tag steht eine Kontrolle an, Sebastian List stellt den schwarzen Arztkoffer auf dem Fußboden ab und legt der Frau die Blutdruckmanschette an. Danach ist die Lunge dran, List greift nach dem Stethoskop, einmal tief einatmen bitte. Nach fünf Minuten ist er mit allem durch, seiner Patientin geht es vergleichsweise gut. Er klappt den Koffer zu und verabschiedet sich.  

Hausarzt in der Heimatstadt: Sebastian List
Hausarzt in der Heimatstadt: Sebastian List Foto: Felix Schmitt

Sebastian List ist 33 Jahre alt und arbeitet seit ein paar Monaten in einer Hausarztpraxis in seiner Heimatstadt. Es sind die letzten Monate seiner fünfjährigen Weiterbildungszeit zum Facharzt für Allgemeinmedizin. Ende Januar macht er die Facharztprüfung, und wenn alles gut läuft, bleibt er danach gleich hier – nicht als angestellter Arzt, wie so viele seiner Kollegen, sondern am liebsten mit einer vollwertigen Niederlassung. Am Beruf als Hausarzt gefällt ihm vor allem die Abwechslung, List sagt: „Man weiß morgens nie, was einen erwartet.“

Mit seiner Entscheidung, einen Arztsitz in Groß-Umstadt zu übernehmen, ist Sebastian List in doppelter Hinsicht eine Ausnahme. Zum einen wollen viele Ärzte in den Metropolen bleiben und nicht aufs Land gehen, um dort zu praktizieren. Denn während die Städte meist überversorgt sind, können auf dem Land in der Regel längst nicht alle Praxen besetzt werden. Allein in Hessen hat die Kassenärztliche Vereinigung (KV), der Zusammenschluss der niedergelassenen Ärzte, derzeit 106 Hausarztstellen ausgeschrieben. Zum anderen zeigen Umfragen, dass gerade junge Ärzte lieber als Angestellte arbeiten wollen, anstatt als Selbständige einen Kassensitz zu führen. Das unterscheidet sie von älteren Generationen, in denen es üblich war, nach der Weiterbildung eine eigene Praxis zu übernehmen. 

Das Modell ermöglichte zwar vielen Medizinern ein sehr gutes Einkommen, allerdings waren damit teilweise exorbitante Arbeitszeiten verbunden sowie die Verantwortung für komplizierte Abrechnung mit den Krankenkassen. Darauf haben viele junge Ärzte keine Lust mehr, für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf verzichten sie auf einen Teil des Einkommens und lassen sich dafür bevorzugt anstellen – mit einem Arbeitsvertrag, der die Arbeitszeit klar regelt und begrenzt. Sebastian List hat sich zweimal dagegen entschieden, gegen die Großstadt und gegen die Sicherheit des Angestelltseins. In seiner Praxis sind derzeit zwei Ärzte tätig, mit ihm werden es übergangsweise drei sein, bis eine heute 63 Jahre alte Medizinerin irgendwann aufhört. „Eine eigene Praxis würde ich jetzt aber nicht aufmachen“, sagt er. „Die ganzen Formalitäten muss man erst einmal lernen.“

Seine Patienten kann er hier „ein Leben lang betreuen“.
Seine Patienten kann er hier „ein Leben lang betreuen“. Foto: Felix Schmitt

Dass er eines Tages in seinen Heimatort zurückkommen würde, war List früh klar. Ein paar Jahre war er fort, zum Studium zog er nach Mainz, danach ging er zur Weiterbildung in ein Krankenhaus nach Rüsselsheim und arbeitete danach in einer Arztpraxis im benachbarten Bischofsheim. Seit gut neun Monaten ist List wieder in Groß-Umstadt. Dort gebe es genügend Geschäfte zum Einkaufen, und im Sommer könne man mit dem Rad in den Odenwald fahren. Und selbst als Hausarzt habe man in der Großstadt meist weniger Bezug zu den Patienten als auf dem Land: „Hier kann ich sie ein Leben lang betreuen und irgendwann auch ihre Kinder.“

Um junge Ärzte aufs Land zu locken, lassen sich die Kassenärztlichen Vereinigungen einiges einfallen. In Hessen zahlt die KV Medizinstudenten aus ganz Deutschland bis zu 595 Euro pro Monat, wenn sie eines der verpflichtenden zweimonatigen Praktika in einer hessischen Hausarztpraxis absolvieren, die in einem Ort mit weniger als 25.000 Einwohnern liegt. Seit 2017 hat die Vereinigung 1500 Anträge genehmigt und dabei Fördergelder in Höhe von 850.000 Euro ausgezahlt – in der Hoffnung, dass die Studenten eines Tages zurückkehren. Ein anderer Fördertopf zielt auf die Weiterbildungszeit. Für jeden Monat, den ein Assistenzarzt in einer kleinen Gemeinde mit Unterversorgung verbringt, kann er später Geld bekommen, wenn er auf dem Land einen Kassensitz übernimmt.

Seit 2017 hat die KV neun solcher Anträge genehmigt, Tendenz steigend, wie eine Sprecherin bestätigt. Am Ende wird auch Sebastian List zwei Jahre seiner Weiterbildungszeit im ländlichen Raum verbracht und damit Anspruch auf die Höchstförderung von 24.000 Euro haben. „Ohne diese Förderung hätte ich wohl länger überlegt, mich doch erst mal anstellen zu lassen“, sagt er. „Ich wäre aber auch so wieder in die Region zurückgekommen.“ Um einen Praxissitz zu übernehmen, müssen junge Ärzte sich vielfach einkaufen und – wie im Fall von Sebastian List – einen höheren fünfstelligen Betrag aufbringen, manchmal auch mehr.


„Landarzt ist der beste Beruf, den es gibt.“
JENS DRAHONOWSKY

Im äußersten Osten der Republik hat Jens Drahonovsky in dieser Woche eigentlich keine Sprechstunde, eine Erkältung hat den Arzt erwischt. Aber der 46 Jahre alte Familienvater sitzt trotzdem am Schreibtisch in seiner Praxis in Sachsen, auf der Patientenliege stapeln sich die Akten. Immer wieder kommt eine Mitarbeiterin herein mit Rezeptwünschen von Patienten, Unterschriften, wichtigen Anrufen. Drahonovsky lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. „Landarzt ist der beste Beruf, den es gibt“, sagt er. Im Jahr 2010 kehrte er nach Rothenburg zurück, einem kleinen Ort in der Oberlausitz, und übernahm die Praxis seiner Mutter. Sie war da schon 77 Jahre alt und hatte so lange gearbeitet, weil sie keinen Nachfolger fand und überdies kaum Rente bekam – bei der Wiedervereinigung war sie bereits zu alt, um noch in ein Versorgungswerk der Ärzte aufgenommen zu werden. 

  • Trotz Erkältung bei der Arbeit: Landarzt Jens Drahonovsky
  • In Rothenburg in der Lausitz sind sie dankbar, dass es „den Doktor“ gibt.
  • Trotz Erkältung bei der Arbeit: Landarzt Jens Drahonovsky Foto: Robert Gommlich
  • In Rothenburg in der Lausitz sind sie dankbar, dass es „den Doktor“ gibt. Foto: Robert Gommlich


Jens Drahonovsky wiederum wollte ursprünglich gar nicht Arzt werden. In der DDR sah er keine Möglichkeit, Medizin zu studieren, also lernte er Maschinen- und Anlagenbauer im nahe gelegenen Waggonbauwerk, machte nebenbei sein Abitur. Nach 1990 aber kam dann auch seine ganz persönliche Wende: Er leistete den Zivildienst im Krankenhaus Niesky ab, entschloss sich doch zum Medizinstudium und zog nach Leipzig. Dort blieb er 15 Jahre, arbeitete im Krankenhaus und spezialisierte sich auf Psychiatrie. „Es war alles tiptopp, ich wollte nicht zurück aufs Land“, sagt er. Doch sei ihm der immer gleiche Tagesablauf in der Klinik irgendwann auf die Nerven gegangen. „Visite, Befundbesprechungen, Dienstpläne – alles war geregelt“, sagt er.

Davon kann in seiner Praxis in Rothenburg keine Rede sein. Montags stehen die Leute schon mal bis zum Haupteingang die Treppe runter. Sprechstunde ist eigentlich nur bis zwölf Uhr, dauert aber meist zwei Stunden länger. Danach erledigt Drahonovsky die Post, liest Befunde, schreibt Gutachten und macht Hausbesuche, manchmal fährt er bis zu dreißig Kilometer zu einem Patienten. „Das geht dann schon mal so bis 22 Uhr“, sagt er. Drahonovsky kennt das noch aus seiner Kindheit, als seine Mutter lange im Dienst war und die Leute am Wochenende auch bei ihr zu Hause auftauchten.

Am Rande der Stadt Rothenburg in der Oberlausitz
Am Rande der Stadt Rothenburg in der Oberlausitz Robert Gommlich

Drahonovsky zog aus der Boom-Metropole Leipzig mit ihren Kneipen, Kinos und Konzerten zurück in das 4500-Einwohner-Städtchen an der Neiße direkt an der Grenze zu Polen – ganz ohne Fördergeld oder andere staatliche Anreize. „Es hat mich einfach fasziniert“, sagt er. Anders als im Großstadtklinikum kennt er hier die Lebensumstände der meisten seiner Patienten. „Ich weiß, wie sie leben, was sie essen, welche Hobbys sie haben, und kann sie einschätzen“, sagt er. „Ich kriege das Leben der Leute ungefiltert mit, höre Konflikte und krasse Geschichten.“ In seiner Praxis direkt am Markt gibt es denn auch keine aufwendigen Geräte. Stethoskop, Blutdruckmesser, ein paar Medikamente – mehr brauche er nicht für seine Arbeit, sagt Drahonovsky.

An das Landleben hat er sich längst wieder gewöhnt, Rothenburgs Zentrum ist hübsch saniert, viele Schaufenster sind zwar leer, doch dafür gibt es jede Menge Platz, eine üppige Natur und das Riesengebirge vor der Haustür. Mit Frau und Kindern hat er sich im Nachbardorf für 7000 Euro einen alten Gasthof gekauft und ausgebaut, oben die eigene Wohnung, unten ein Tante-Emma-Laden mit Imbiss und Café, damit vor allem ältere Leute wieder einen Treffpunkt haben. Auch das trägt zum Wohlbefinden der Leute bei. In der Großstadt hätte ihn all das ein Vermögen gekostet, sagt er. „Als Arzt auf dem Land verdient man gut und hat ein gutes Leben.“  

Rothenburg / Oberlausitz

Groß-Umstadt / Südhessen

Hausach / Schwarzwald

Karte: Johannes Thielen

Rothenburg / Oberlausitz

Groß-Umstadt / Südhessen

Hausach / Schwarzwald

Karte: Johannes Thielen

Die Rothenburger wiederum sind dankbar, dass es „den Doktor“ gibt. Der Landarzt steht hier beinahe auf einer Stufe mit Pfarrer und Bürgermeister, und bis vor kurzem habe er das auch genießen können, sagt Drahonovsky. „Die Arbeit ist immer noch super, aber glücklich wäre ich, wenn ich nur noch halb so viele Patienten hätte“, sagt er. Vor zwei Jahren schloss eine Praxis im Ort, seitdem hat sich die Zahl seiner Patienten verdoppelt. 1700 Leute behandelt er heute im Quartal. „Ich könnte so wie andere die Patienten ablehnen, aber das mache ich nicht“, sagt er. „Zum Dank“ fordere die zuständige KV jetzt 30.000 Euro von ihm zurück, weil er die festgelegten Budgets für die Behandlung seiner Patienten überschritten habe. Eine „Frechheit“ sei das, sagt er. Das Landleben genießen, das sei so im Moment nicht drin.

Auch für manchen Bewohner ländlicher Gegenden in Deutschland ist die Abgeschiedenheit nicht immer ein Grund zur Freude. Der Weg von Hausach in die schmalen Seitentäler des Schwarzwalds ist kurz. Man muss nur von der Hauptstraße abbiegen, ein paar Kilometer weit fahren, schon ist man auf dem Ramsteiner- oder dem Nockenhof – und ziemlich weit weg von allem, was sich Stadt nennen kann. Für Urlauber ist das wunderbar und erholsam. Wer aber in einem dieser Täler krank wird oder an einer chronischen Krankheit leidet, kann sich schnell hilflos fühlen.


Die Ärzte unterstützen sich gegenseitig, damit der Beruf des Landarztes wieder attraktiv wird.

Denn Industrie gibt es im Kinzigtal zwar noch, doch die Zukunft der medizinischen Versorgung ist hier im Schwarzwald seit vielen Jahren ein ebenso ungelöstes Problem wie in Teilen Sachsens und Hessens – Hausärzte finden keine Nachfolger, kleine Krankenhäuser müssen geschlossen werden, weil sie rote Zahlen schreiben und die Leistung nicht stimmt. Die Menschen werden aber immer älter, die Medizin wird ständig leistungsfähiger, so dass der Versorgungsbedarf steigt. Für den Ortenaukreis, in dem Hausach liegt, haben Wissenschaftler das genau berechnet. Demnach nimmt die Zahl der Hausarztpraxen ab, der Versorgungsbedarf für ambulante Patienten soll von 2009 bis 2025 aber um neun Prozent steigen.

Die Gesundheitswelt Kinzigtal in Hausach im Schwarzwald
Die Gesundheitswelt Kinzigtal in Hausach im Schwarzwald Foto: Patrick Junker
Die Gesundheitswelt Kinzigtal in Hausach im Schwarzwald Foto: Patrick Junker
Christoph Löschmann, Geschäftsführer des Projekts Gesundes Kinzigtal
Christoph Löschmann, Geschäftsführer des Projekts Gesundes Kinzigtal Foto: Patrick Junker
Christoph Löschmann, Geschäftsführer des Projekts Gesundes Kinzigtal Foto: Patrick Junker

An der Hausacher Hauptstraße, gleich neben dem Bahnhof, arbeitet man seit fünfzehn Jahren an der Zukunft der medizinischen Versorgung auf dem Land. In einem modernen dreistöckigen Gebäude ist der Sitz des Ärzte-Netzwerks „Gesundes Kinzigtal“, zu dem eine Arztpraxis, eine Geschäftsstelle und ein Fitnessstudio gehören.  

Ein Netzwerk von fünfzig Haus- und Fachärzten kümmert sich dort um Krankheitsprävention und die Behandlung der Patienten. Die Ärzte unterstützen sich gegenseitig, tauschen Informationen über Patienten aus, bekommen zum Beispiel Hilfe bei der Wartung ihrer Praxissoftware, organisieren gemeinsam Fortbildungen, erstellen Erfahrungsberichte über Medikamente und tragen so dazu bei, dass der Beruf des Landarztes wieder attraktiv wird.

Vor der Gründung des „Gesunden Kinzigtals“ tauschten die Ärzte ihre Erfahrungen zufällig am Stammtisch aus. „Anlass für die Gründung war, dass die Ärzte hier vor sich hingewurschtelt haben“, sagt Christoph Löschmann, Geschäftsführer des Projekts. Und die Ärzte wollten „sektorenübergreifend“ arbeiten, sagt er, also die stationäre Versorgung in der Klinik und die ambulante Medizin mit den Praxen der Haus- und Fachärzte besser verbinden.

Patienten wie Juse Maciel trainieren auf Empfehlung ihres Arztes im Fitnessstudio der Gesundheitswelt Kinzigtal.
Patienten wie Juse Maciel trainieren auf Empfehlung ihres Arztes im Fitnessstudio der Gesundheitswelt Kinzigtal. Foto: Patrick Junker

Die Gründer des Netzwerks machten der AOK und der Landwirtschaftlichen Krankenkasse ein Angebot: Wir gewährleisten die Vollversorgung, kümmern uns um Prävention, verbessern den Gesundheitszustand der Menschen und sparen den Kassen damit Geld. Die Hälfte des eingesparten Geldes bekommt das „Gesunde Kinzigtal“, um damit 22 Therapeuten und Gesundheitsmanager sowie Präventionskurse zu finanzieren. Und das scheint zu funktionieren. Während im Durchschnitt von 450 Herz-Kreislauf-Patienten etwa 280 stationär behandelt werden müssen, sind es dank der besseren hausärztlichen Betreuung sowie der Präventionsangebote im Kinzigtal nur 150.


„Die achtzig Jahre alte, kinderlose Oma braucht in jedem Fall einen Hausarzt in der Nähe.“
BRIGITTE STUNDER

Brigitte Stunder gehört zu den Gründern des Ärzte-Netzwerks. Die 68 Jahre alte Allgemeinmedizinerin betreibt mit ihrem Mann eine Praxis in Zell am Harmersbach. Eigentlich hätte sie die Praxis schon längst abgeben wollen, aber wer lässt sich schon im tiefsten Schwarzwald nieder. „Mit 70 Jahren muss ich nicht mehr zwölf Stunden am Tag arbeiten“, sagt sie. „Es ist mir wichtig, bei den Schwarzwaldhofbauern regelmäßig einen Hausbesuch zu machen, auch wenn diese nicht schwer krank sind. Es geht auch darum, was ich an schlimmen Erkrankungen verhindern kann.“ Von einer Landarztquote – also eigenen Medizin-Studienplätzen für jene Bewerber, die sich verpflichten, nach dem Abschluss für eine gewisse Zeit als Landärzte zu arbeiten –, wie sie die baden-württembergische Landesregierung auf Wunsch der CDU gerade beschlossen hat, hält die Ärztin wenig.

Ein Team: Brigitte Stunder mit Kollege Martin Volk
Ein Team: Brigitte Stunder mit Kollege Martin Volk Foto: Patrick Junker

Auch Einrichtungen wie das „Gesunde Kinzigtal“ und medizinische Versorgungszentren allein könnten die ärztliche Versorgung auf dem Land nicht retten: „Wie soll denn die achtzig Jahre alte, kinderlose Oma in diese Zentren kommen? Die braucht in jedem Fall einen Hausarzt in der Nähe. Und dann muss – egal, ob es Ärztehäuser, Versorgungszentren oder kleine Krankenhäuser sind – vor allem das Transportproblem gelöst sein“, sagt Stunder. Nach einer Berechnung der KV sind im Südwesten etwa 600 Hausarztstellen unbesetzt, zudem schreibt ein Drittel der rund 200 Krankenhäuser rote Zahlen.

Wenn Versorgungslücken verhindert werden sollen, dann müssen sich die Strukturen schnellstens ändern. In Baden-Württemberg gibt es aber nur in Calw, Hohenstein, Konstanz, Filderstadt und Nußloch erste Pilotprojekte, in denen die sektorenübergreifende Versorgung erprobt wird. Die Geschäftsführer des „Gesunden Kinzigtals“ diskutieren gerade, ob sie nicht ein medizinisches Versorgungszentrum gründen sollten, also einen Zusammenschluss mehrerer Arztpraxen unter einem Dach.

Jens Drahonovsky: „Wenn die Kassenärztliche Vereinigung mich weiter ärgert, bin ich weg.“
Jens Drahonovsky: „Wenn die Kassenärztliche Vereinigung mich weiter ärgert, bin ich weg.“ Foto: Robert Gommlich

Auch für Jens Drahonovsky in der Oberlausitz muss sich bald etwas ändern. Um die vielen Patienten noch gut betreuen zu können, würde er sofort einen Kollegen anstellen, auch halbtags, für 5000 Euro brutto im Monat. Doch niemand finde sich, sagt er, nicht einmal aus Polen, denn da gebe es dasselbe Problem und es würden inzwischen noch bessere Gehälter gezahlt als in Deutschland. Lange könne er so nicht mehr weitermachen, sagt Drahonovsky. 

Im hessischen Odenwald muss Sebastian List erst einmal seine Facharztprüfung bestehen. Eine halbe Stunde mündliche Prüfung, jede Menge Stoff. Seine Kollegin Margret Seehase ist zuversichtlich, dass alles gutgeht. Sie ist jetzt 63 Jahre alt und will aufhören, wenn ihr Nachfolger sich in der Praxis etabliert hat. Dass Landärzte keine Nachfolger finden, sei ein Problem, das inzwischen sogar im Speckgürtel einer Metropole wie Frankfurt angekommen sei, sagt sie. Ein Dorf weiter würde ein Kollege seine Praxis jetzt sogar verschenken, so weit sei es schon gekommen. Als Seehase das sagt, schaut sie hinüber zu List, dem jungen neuen Kollegen. „Aber wir hatten ja großes Glück mit ihm.“


 

Quelle: F.A.Z.

Veröffentlicht: 09.01.2020 12:23 Uhr