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Erklärung gegen Judenhass : Der vielgesichtige Antisemitismus

  • -Aktualisiert am

Pro-israelische Demonstration im Mai in Leipzig. Bild: dpa

Antisemitismus ist auch 76 Jahre nach der Shoah ein ernst zu nehmendes Problem in Deutschland. Schulen und Universitäten sind in der Aufarbeitung gefragt. Doch wo genau ansetzten? Ein Gastbeitrag.

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          Die Militäraktion Israels zur Verteidigung gegen die Angriffe der Hamas wurden in Deutschland in den letzten Wochen von antisemitischen Demonstrationen begleitet. Dort tauchten nicht nur jahrhundertealte antisemitische Feindbilder wie das aus dem Mittelalter stammende „Kindermörder“ oder „Scheißjuden“ auf, sondern es wurde zu Gewalt gegen Juden und zur Vernichtung des jüdischen Staats aufgerufen. Aus Worten folgen Taten. Das gilt auch für den Antisemitismus und lässt sich an den Angriffen auf Synagogen in Münster, Düsseldorf und Ulm in den letzten Wochen aufzeigen.

          Aus empirischen Studien geht hervor, dass 90 Prozent der Juden in Deutschland Antisemitismus als großes oder sehr großes Problem ansehen, über 60 Prozent über eine Auswanderung nachgedacht haben und die Mehrheit es aus Angst vor verbalen oder physischen Angriffen vermeidet, in der Öffentlichkeit jüdische Symbole zu tragen. Der Antisemitismus, wie er sich geballt in Phasen auf den Straßen entlädt, aber auch die Alltagserfahrungen von Juden in Deutschland prägt, wird von Juden als konkrete Bedrohung empfunden. Das ist trotz aller politischen Bemühungen zur Ächtung des Antisemitismus die gesellschaftliche Kulisse für Juden in Deutschland 76 Jahre nach der Shoah.

          Das „eigentliche Problem“

          Daran etwas zu verändern ist das Ziel der gemeinsamen Erklärung des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten und der Kultusministerkonferenz (KMK). Die Schule ist eben nicht nur Bildungs-, sondern ebenso Erziehungs- und Sozialisationsinstanz. Sie ist Teil der Gesellschaft, und insofern ist es aus soziologischer Perspektive nicht verwunderlich, dass der Antisemitismus sich auch dort zeigt. Jüngste Forschungsbefunde über den Antisemitismus an Schulen weisen aber darauf hin, dass er ausgerechnet dort besonders gedeiht, wo ihm Pädagogen entgegenzuwirken verpflichtet sind. Basierend auf Gesprächen, habe ich im Rahmen einer mehrjährigen soziologisch-qualitativen Studie die Erfahrungen jüdischer Schüler und die typischen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster von Lehrern rekonstruiert. So konnte gezeigt werden, dass der Antisemitismus in der Schülerschaft von Lehrern häufig nicht erkannt oder bagatellisiert wird, jüdische Schüler mitunter als „eigentliches Problem“ wahrgenommen werden und antisemitische Einstellungen auch unter manchen Lehrern ausgeprägt sind.

          Die gemeinsame Erklärung zum Umgang mit Antisemitismus in der Schule, die am Freitag von der KMK veröffentlicht wurde, benennt diese Probleme konkret. Es werden also einheitliche, die Schulart, das Schulfach, orts- und gruppenübergreifende Empfehlungen für einen pädagogischen Umgang mit Antisemitismus formuliert, die den jüngsten Forschungsbefunden Rechnung tragen und den Akteuren in den Schulen Präventions- und Interventionsmaßnahmen aufzeigen.

          Problem bei Lehrkräften

          Der problematischen Tendenz von Lehrkräften etwa, Antisemitismus nicht als Phänomen eigener Art wahrzunehmen, als falsche Generalisierung und damit als Vorurteil über Juden fehlzudeuten oder gar dem Rassismus gleichzusetzen, wird mit einer einheitlichen Grundlage nach der Definition der „International Holocaust Remembrance Alliance“ begegnet, Äußerungen oder Handlungen als antisemitisch einordnen zu können. Die International Holocaust Remembrance Alliance ist eine zwischenstaatliche Organisation zur Erforschung des Antisemitismus. Sie definiert Antisemitismus als Phänomen, dem die vernichtende Idee zugrunde liegt, „ohne Juden wäre die Welt besser“. Gemeint ist damit jegliche Form des Antijudaismus über den rassistischen Antisemitismus bis hin zum Post-Holocaust-Antisemitismus. Lehrer haben das Spezialwissen über alle Erscheinungsformen des Antisemitismus mitunter nicht und erkennen ihn nicht als solchen.

          Das gilt insbesondere dann, wenn der Antisemitismus nicht offen oder nicht mit Bezug auf seine nationalsozialistische Form und die Shoah kommuniziert wird. Der israelbezogene Antisemitismus wird als zeitgemäß dominierende Erscheinungsform von vielen Lehrern nicht dem Problembereich zugerechnet, sondern als „legitime Kritik“ am jüdischen Staat verstanden. Lehrer sind sich oft unsicher, ob es sich um Antisemitismus handelt.

          Kein Randphänomen

          Erst auf einer klaren begrifflichen Grundlage kann die Problemwahrnehmung angemessen vereinheitlicht, antisemitische Handlungen benannt und erfassbar gemacht und ein daran anschließender pädagogischer Umgang mit dem Problem ermöglicht werden. Für den pädagogischen Umgang, und auch das schließt die Erklärung ein, ist es wichtig, den antisemitischen Gehalt von Handlungen unabhängig davon, von wem sie ausgehen, klar auszuweisen. Antisemitismus wird aber häufig nicht als Problem der Gruppe wahrgenommen, der man sich selbst zurechnet, sondern ausschließlich bei anderen problematisiert, als importiertes Problem oder solches von Rechtsextremen, als Gehirnwäsche oder kindliche Dummheit zum Ausnahme- beziehungsweise Randphänomen reduziert.

          Nach der Benennung geht es darum, die Kontinuität des Antisemitismus und dessen Aktualität zum Gegenstand des pädagogischen Umgangs zu machen, seine Funktionen und Mechanismen offenzulegen, antisemitische Äußerungen klar zu widerlegen und sie sowohl politisch als auch sozial zu kontextualisieren. Die Schüler sollen dazu befähigt werden, antisemitische Äußerungen zu erkennen und zurückzuweisen.

          Fortbildungen

          Unabhängig von konkreten Erfahrungen werden mit antisemitischen Äußerungen Feindbilder und das ihnen zugrunde liegende Weltbild aktiviert, der weit verbreitete Schimpfwortgebrauch „du Jude“ stigmatisiert jüdische Identität. Trotzdem gibt es viele Lehrer, die solche Handlungen nur dann für antisemitisch halten, wenn sie antisemitische Motive der Schüler widerspiegeln. Anstatt solcher Zuschreibungen bedarf es einer Argumentation gegen antisemitische Äußerungen. In der Erklärung werden Fort- und Weiterbildungen für Lehrkräfte empfohlen, um ihnen spezifische Argumentationsmuster gegen Antisemitismus näherzubringen ebenso wie die fächerübergreifende Verankerung des Themas im Lehramtsstudium.

          Allerdings wäre es ein Missverständnis, dass Antisemitismus sich als Wissensdefizit durch faktenbasierte Bildung oder als irrationale Verirrung durch bessere Argumente erledigen lässt. Er schottet gegen Fakten, Widersprüche und als tief verankertes Ressentiment und geschlossenes Weltbild gegen Reflexion ab, er funktioniert nicht trotz, sondern wegen seines irrationalen Charakters. Bessere Bildung zielt also nicht auf ein naives Bildungsideal, sondern darauf, Antisemitismus zum Gegenstand eines mehrdimensionalen Ansatzes von Aufklärung, Sensibilisierung und Reflexion für Lehrkräfte und Schüler zu machen. Auch die eigene Biographie und Emotionen sollen dabei dem Ansatz der Erklärung nach als Ressource für die Bildungsarbeit berücksichtigt werden.

          Damit gibt es eine Grundlage dafür, die häufig formelhaft vorgetragene und von Juden als leere Versprechung wahrgenommene Ächtung des Antisemitismus in der pädagogischen Praxis zu verankern. Die Erklärung steht also für ein klares politisches Zeichen, auf das viele Juden lange gewartet haben. In der Ausbildung von Referendaren und im Bereich Weiter- und Fortbildung von Lehrkräften ist in Kooperation mit dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern, dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein und dem Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Hamburg geplant, den Transfer anstoßen und an der Umsetzung der Empfehlungen arbeiten.

          Über die Autorin

          Die Autorin hat die Professur für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Sciences inne und hat bei der gemeinsamen Erklärung des Zentralrats der Juden in Deutschland und der Kultusministerkonferenz zum Umgang mit Antisemitismus in der Schule mitgewirkt.

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