Die Revolutions-Berater von der Belgrader Uni : Umsturz für alle
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Rolltreppe aufwärts - oder rückwärts? Ein nationalistischer Graffiti-Spruch ruft zur Einheit aller Serben auf, auch derjenigen, die in Bosnien leben. Bild: Matteo Gariglio
Seit Diktator Milošević vertrieben wurde, herrscht in Serbien Eiszeit in den Köpfen. Sich mit der eigenen Vergangenheit beschäftigen? Fällt vielen schwer. Eine Gruppe junger Wissenschaftler will das ändern und aus der friedlichen Revolution des Jahres 2000 einen Exportschlager machen.
Jede Stadt hat ihr Ereignis. Während die New Yorker sich erzählen, wo sie an 9/11 waren, fragen die Belgrader: Wo warst du, als Milošević gestürzt wurde? /// Als Milošević gestürzt wurde, saß Nemanja Džuverović im Wohnzimmer seiner Eltern und las Rousseau. /// Als Milošević gestürzt wurde, stand Srđa Popović vor dem Parlament und schrie sich die Freude aus dem Leib. /// Als Milošević gestürzt wurde, saß Ana Dragić mit ihrer besten Freundin vor dem Fernseher und sah ihre Eltern in einer Wolke aus Tränengas verschwinden.
Drei Menschen, drei Generationen, drei Geschichten. Sie alle treiben ihre eigene Art von Revolution voran und stehen für ein neues Belgrad: aufmüpfig und weltoffen. Belgrad ist im Umbruch, mal wieder. Die serbische Hauptstadt gleicht einem Narbenfeld der europäischen Geschichte. Kaum ein Konflikt oder eine politische Wende, die die Stadt nicht miterlebte. Zuletzt das dunkle Ka pitel, das im Oktober 2000 mit dem Sturz Miloševićs endete. Die turbulente Geschichte hat sich tief in die Strukturen der Stadt eingegraben. Sie durchdringt Politik, Kultur und Wissenschaft. Trotzdem wird öffentlich kaum darüber gesprochen, und wenn, dann mit Pathos und Glorifizierung. Eine kritische Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit? Sucht man vergeblich. Damit soll jetzt Schluss sein, findet eine neue Bewegung von Wissenschaftlern und Aktivisten, und will dem Schweigen ein Ende setzen.
KRIEG UND FRIEDEN STUDIEREN
Der Ort des Antriebes liegt im Süden der Stadt. Eine grün lackierte Straßenbahn quietscht durch die Straßen der Innenstadt. Vorbei an überbewachten Botschaften, vorbei an der riesigen orthodoxen Kirche, vorbei am ehemaligen Ministerium für Inneres und Verteidigung, das 1999 von NATO-Jets zu einem verkohlten Stahlgerüst gebombt wurde, und das seither inmitten der Stadt – einem Mahnmal gleich – vor sich hin rottet.
Die Fakultät der Politischen Wissenschaften (FPS) ist ein unauffälliges Gebäude im Bürostil. Viel kaltes Licht in den Gängen, die Hörsäle von Holztäfelungen und Ledersitzen in warme Farben eingefasst. Gerade ist Prüfungswoche, und Nemanja Džuverović hat Zeit, zu reden. Sein Büro im ersten Stock ist winzig klein, an den Wänden ein einziges Bild, ein Porträt von Gandhi. Auf der Tür steht: Peace Studies.
Džuverović, 30, in Jeans und grauem Blazer, koordiniert das Zentrum für Friedensforschung an der Fakultät. Er sagt: „Man muss sich mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, sonst kommt man nicht weiter.“ Und: „Wer Frieden studiert, studiert eigentlich Krieg.“
Der Kampf ist gerade in vollem Gang und gleicht einem regelrechten Putsch: Eine Gruppe junger ambitionierter Wissenschaftler will die Forschung an der Fakultät auf den Kopf stellen. Anstatt Theorien auszubreiten und Literatur zu vergleichen, wie es in den letzten Jahrzehnten praktiziert wurde, wollen sie empirische Ansätze ins Zentrum rücken. Ein „Clash der Generationen“ sei im Gange, sagt Džuverović. Die ältere Generation, die ihre ganze akademische Laufbahn in Serbien verbracht hat, gegen die jüngere, von denen die meisten ihren Master- oder Doktortitel im Ausland machten. Džuverović etwa hat in Oxford und Cambridge studiert und den pragmatisch-empirischen Forschungsstil der Elite-Unis an die FPS gebracht – zur Irritation der älteren Professoren. Für die war eine wissenschaftliche Interpretation der Jugo slawien-Kriege bisher undenkbar. Hinzu kommt, dass viele serbische Professoren auch in der Politik tätig und deswegen doppelt vorsichtig sind, was die Sprengkraft ihrer Studien angeht.