16 Tage Uni spielen
Von NADINE BÖS, Fotos VERENA MÜLLER28.08.2017 · Fuzzy-Mathe, katalytische Systeme, ehrgeizige Chorproben: Besonders begabte Zwölftklässler schieben bei der Deutschen Schülerakademie Sonderschichten, die sie an ihre Grenzen bringen.
J ulia Hütte ist 17 Jahre alt, hat einen Notendurchschnitt von 0,7, spielt Querflöte im Schulorchester, geht bis zu fünfmal die Woche zum Tennis und engagiert sich in der Kirche. Sie hat an kleineren Geschichts- und Chemiewettbewerben teilgenommen, Mathe ist ihr Lieblingsfach. In diesen Ferien ist sie für zweieinhalb Wochen zusammen mit 93 anderen Oberstufenschülern aus ganz Deutschland nach Urspring in Baden-Württemberg gereist, zu einer fast drei Wochen langen Veranstaltung der Deutschen Schülerakademie. Hier und an fünf weiteren Orten in Deutschland trifft sich alljährlich der besonders begabte Nachwuchs der Republik, etwa um täglich fünf Stunden über „Fuzzy“-Methoden in der Mathematik zu brüten, katalytische Systeme in der Chemie zu analysieren oder sich mit interdisziplinären Methoden der Frage „Was ist Angst?“ zu nähern.
Hierhin schaffen es nur die Besten eines Jahrgangs. Die Plätze sind rar und äußerst begehrt; im Mathekurs, wie sie sich das gewünscht hätte, ist Julia nicht untergekommen. Dafür sitzt sie nun im Geschichtskurs. „Nicht so schlimm“, sagt sie. „Ich finde Mathe zwar total faszinierend, aber ich bin nicht einer von diesen Mathe-Freaks, die gar nicht rechts und links gucken.“ Überhaupt hatte sie anfangs Bedenken, dass die Schülerakademie voller Freaks sein könnte: „Ich habe mir langweilige Leute vorgestellt, die den ganzen Tag nur über Büchern sitzen.“ Es ist anders gekommen. „Ich habe hier richtig gute Freunde gefunden, die ich vermissen werde, wenn ich zurück zu Hause im Sauerland bin.“ Nicht, dass sie in der Schule keine Freundinnen hätte. „Aber wenn hier eine Party ist, muss ich nicht so drauf achten, wie ich geschminkt bin oder ob jemand gerade ein Foto von mir macht“, sagt Julia. „Hier zählen andere Dinge.“
An diesem Donnerstag ist keine Party in Urspring. Vielmehr ist das Schreiben der Abschlussdokumentation angesagt, im Stil einer echten wissenschaftlichen Arbeit. Schon dreimal hat Julia ihren Entwurf zurückbekommen, voller Korrekturen; fast jeder Satz ist angestrichen oder mit einer Bemerkung versehen. „Das bin ich überhaupt nicht gewöhnt aus der Schule“, sagt sie. Dort bekommt sie selten Kritik. „Anfangs hat mich das beunruhigt. Aber dann habe ich gemerkt, dass es allen anderen genauso geht.“ Julias Kursleiter, Christian Rieck, der im normalen Leben an der Berliner Humboldt-Uni lehrt und am „Global Governance Institute“ in Brüssel forscht, kennt den Effekt: „Unsere Kurse sind auf Universitätsniveau“, sagt er. „Teilweise gehen sie über den Stoff des ersten und zweiten Semesters hinaus. Wir bringen die Leute hier ganz bewusst an ihre Grenzen – so manchen zum ersten Mal in seinem Leben.“
Neun verschiedene Akademien, über ganz Deutschland verteilt, veranstaltet die Deutsche Schülerakademie in diesem Sommer; die meisten sind mittlerweile beendet oder neigen sich ihrem Ende zu. Dahinter steckt die Stiftung Bildung und Begabung aus Bonn. Die Akademien sind Teil des Begabtenförderprogramms des Bundes und der Länder; neben anderen Geldgebern erhalten sie Fördermittel vom Bildungsministerium und vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Veranstaltungsorte sind Internatsschulen, die in den großen Ferien leer stehen; die meisten von ihnen auf dem platten Land. Ablenkung vom Akademieprogramm gibt es hier nicht; von der Urspringschule aus ist die nächste Kleinstadt Schelklingen nur in einem fast halbstündigen Fußmarsch erreichbar. Julia hat die kleine Wanderung vor einigen Tagen mit ihrer Zimmergenossin unternommen: „Gelohnt hat es sich nicht so sehr. Die größte Attraktion ist der Supermarkt. Die hatten ganz gutes Eis.“
Meistens aber bleibt ohnehin keine Zeit für solche Unternehmungen. Julias Tage sind straff durchgeplant. Sie beginnen morgens um 8.30 Uhr mit einer Vollversammlung aller Schüler und Kursleiter. Ab 9 Uhr geht’s in den Geschichtskurs; die Schüler konzentrieren sich darin 16 Tage lang komplett auf ein einziges Thema: Die Kino-Wochenschauen aus den vierziger und fünfziger Jahren; kleine Nachrichtenüberblicke, die damals in Kinovorführungen vor dem Hauptfilm gezeigt wurden. Julia beschäftigt sich speziell mit der Zeit der Berlin-Blockade und deren Darstellung in den Ost-Medien. Der Kurs kombiniert geschickt geschichts-, politik- und medienwissenschaftliche Inhalte. Anders als in der Schule bleibt viel Zeit, sich einem Spezialgebiet intensiv zu widmen; drei Stunden jeden Vormittag, zwei jeden Nachmittag.
Zwischen den Unterrichtsphasen veranstalten die Schüler selbstorganisierte Kurse mit frei gewählten Themen, die jeden Morgen aufs Neue in einem Stundenplan festgehalten werden. Manche tauschen sich über ihre Kursinhalte aus, andere treffen sich zum Volleyball, wieder andere schließen sich zu einer Metal-Band zusammen. Überhaupt spielt das Thema Musik eine entscheidende Rolle: Zu jeder Schülerakademie reist eigens ein Profimusiker an, der einen Chor anleitet und am Ende ein großes Abschlusskonzert organisiert. Mit lockerem Freizeitsingen hat der Chor in Urspring allerdings nur wenig zu tun. Mindestens ein Drittel derjenigen, die anfangs Interesse hatten, haben mittlerweile aufgegeben, erzählen die Schüler in der Kaffeepause und berichten von einer „äußerst ehrgeizigen“ Stimmung während der Musikproben. Diejenigen, die beim Chor dabeigeblieben sind, stellen fest, dass „sehr viele verschiedene Stücke“ einstudiert würden. Es klingt nach harter Arbeit, nicht nach Spaßfaktor. Wer bei den Proben zuhört, fühlt sich in der Tat an ein Profikonzert erinnert.
Der 17 Jahre alte Alexandru Duca aus München bleibt dem Musikprogramm lieber fern. Weil er, wie er sagt, „immer schon unmusikalisch“ war. Stattdessen leitet er in den Zeiten zwischen den Kursen eine Gruppe von etwa sieben Teilnehmern beim Improvisationstheater an. Zu Hause spielt Alexandru selbst leidenschaftlich gern Theater und liest darüber, wie Humor funktioniert; in Urspring ist viel Raum, um dieses Wissen an Gleichaltrige weiterzugeben. An diesem Donnerstag wählt er zwei Teilnehmer aus, die als Schauspieler auf die Bühne kommen und eine spontane Darbietung zum Thema „Katzenklo“ auf die Beine stellen sollen. Das Ganze in einem wilden Sprachmix aus Deutsch, Französisch, Schwedisch, Rumänisch, Altgriechisch und Latein. Nicht immer reichen die Fremdsprachenkenntnisse. Irgendwann laviert der Dialog weitgehend sinnfrei zwischen „homo homini lupus est“ und „Ikea, Ikea, Ikea“. Das kleine Publikum jedenfalls lacht Tränen. Alexandru Duca ist zufrieden.
W er ihn nicht persönlich kennt, würde ihn vermutlich weniger als Entertainer denn als einen eher trockenen Typen einschätzen. Seine größte Begabung liegt schließlich bei einem durch und durch rationalen Thema: Mathe. In der zweiten Runde des Bundeswettbewerbs Mathematik war er vergangenes Jahr Preisträger; während der Schülerakademie hat er noch am Morgen einen Vortrag über unscharfe Methoden in der Spieltheorie gehalten. Zusammen mit einem Kurskollegen hat er ein Programm geschrieben, das einen fehlenden Mitspieler in einer Schafkopf-Kartenspielrunde ersetzen kann. Zwar spielt der Computer noch nicht so gut wie ein Mensch, doch sind die beiden zuversichtlich, dass das mit ein paar Verbesserungen noch gelingen kann. Alexandru bewundert seinen Teamkollegen, der mit ihm am Schafkopf-Programm bastelt: „Der hat sogar an der internationalen Mathematik-Olympiade teilgenommen“, sagt er. „Der ist ein wirkliches Genie.“ Dass es einen Gleichaltrigen gibt, den er für seine Mathe-Fähigkeiten bewundert – das ist Alexandru in der Schule noch nie passiert. „Hier ist das anders“, sagt er. „Hier kann ich auch mal einen Witz über Konvergenzkriterien machen, und sofort sind da vier oder fünf Leute, die sich kaputtlachen.“
Für die Schülerakademie vorgeschlagen hat ihn sein Gymnasium in München. Das ist einer der drei möglichen Wege, in Urspring oder an einer der anderen acht Akademien zu landen. Auch eine Eigenbewerbung ist möglich, ebenso stehen die Akademien erfolgreichen Teilnehmern von Bundes- oder Landeswettbewerben offen. Ein reiches Elternhaus braucht es nicht: Wer einmal angenommen ist und sich die fast 600 Euro Teilnehmerbeitrag nicht leisten kann, bekommt die Gebühr ganz oder zum Teil erlassen. „Die Schülerakademie prüft das Elterneinkommen, ähnlich wie das beim Bafög geschieht“, sagt der Urspringer Akademieleiter Jo Schwerdtfeger.
Ein überdurchschnittlicher Anteil der Akademie-Teilnehmer stammt aus bildungsnahen Haushalten, sagt Schwerdtfeger. Ob das an der Auswahl der Schulen liegt oder an der größeren Breite des außerschulischen Engagements der Kinder aus Akademikerfamilien, weiß er nicht. Erfreulich hoch sei jedenfalls der Mädchenanteil (mehr als die Hälfte), und immerhin rund ein Zehntel der Schüler habe einen Migrationshintergrund oder Auslandsbezug; insgesamt 11 nichtdeutsche Herkunftsländer sind vertreten. „Wichtig sind nicht nur gute Leistungen in der Schule“, sagt Schwerdtfeger. „Entscheidend ist, dass die Schüler eine hohe Motivation haben, breit interessiert sind und sich neben der Schule auch anderweitig engagieren.“ Vor allem darum geht es der Schülerakademie. Leistungssportler und begabte Musiker würden häufig stark gefördert, intellektuell begabte Jugendliche nur punktuell und „eher fachbezogen“, so die Argumentation. Es gelte, auch sie „sowohl fachlich als auch in ihrer Persönlichkeitsentwicklung“ voranzubringen. Auch sollten sie die Chance bekommen, andere sehr begabte und motivierte Schüler kennenzulernen.
Alexandru Duca erzählt dazu gern die Geschichte von der Party, die sie neulich abends in Urspring gefeiert haben. Da sei er kurz an die frische Luft gegangen und habe vor der Tür ein Mädchen getroffen, mit dem er spontan über Lyrik zu reden begann. „Kurz danach haben wir selbstgeschriebene Gedichte ausgetauscht“, sagt er. „So etwas passiert nur hier.“
Quelle: F.A.Z.
Veröffentlicht: 01.09.2017 08:00 Uhr
