Abschied von Rudolf Schieffer : Den Anfang macht das Register
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Das unentbehrliche Hilfsmittel des Bildungsreisenden ist der Reclam-Kunstführer: Rudolf Schieffer und Martina Hartmann 1984 auf Exkursion in Rom Bild: Letha Böhringer
Wissenschaft als Beruf bedeutet lebenslange Zuarbeit: Die deutschen Historiker nehmen Abschied von Rudolf Schieffer, dem früheren Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica.
Als Rudolf Schieffer, Professor in Bonn, seiner Hilfskraft Martina Hartmann probeweise ein Buch zur Besprechung überließ, das ihm das „Deutsche Archiv für Erforschung des Mittelalters“ zugesandt hatte, gab er ihr einen warnenden Hinweis mit auf den kritischen Weg: Das Rezensieren sei keine Tätigkeit, mit der man sich bei den Mitmenschen beliebt mache. Wie viel Rudolf Schieffer, von 1994 bis 2012 Präsident der Monumenta Germaniae Historica, auf seine Beliebtheit gab, zeigt eine Zahl, die Martina Hartmann, Präsidentin der MGH seit 2018, in ihrer Gedenkrede auf ihren Lehrer mitteilte: 3785 Besprechungen verfasste Schieffer allein für das „Deutsche Archiv“, die Hauszeitschrift der MGH. Wie beliebt der am 14. September 2018 verstorbene Historiker bei seinen Kollegen war, erwies die Münchner Gedenkfeier. Der Saal des Historischen Kollegs war voll besetzt, etliche Teilnahmegesuche hatten abschlägig beschieden werden müssen.
Gerrit Walther, Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, rühmte Schieffer als „unerschrockenen Streiter für die Autonomie der Wissenschaft“. Schieffers Mitgliedschaften in Kommissionen, Akademien und anderen Organen der Selbstorganisation der Wissenschaft widmete die zweite Rednerin, Claudia Märtl, von 2012 bis 2014 seine erste Nachfolgerin im MGH-Präsidentenamt, die erste Hälfte ihrer Rede, bevor sie die Schwerpunkte seiner Forschungsarbeit würdigte. Ohne Ironie sagte sie, es werde noch intensive historische Recherche nötig sein, um eine vollständige Übersicht seiner ehrenamtlichen Tätigkeiten herzustellen. Es scheint selbstverständlich, Schieffer einen Wissenschaftsmanager zu nennen. Aber dieser Begriff selbst versteht sich keineswegs von selbst.
Als Präsident der MGH war Schieffer der Wunschkandidat seines Vorgängers Horst Fuhrmann, der ihn schon 1975 nach der Bonner Promotion nach München geholt hatte. Für die Leitung des vor zweihundert Jahren unter dem Patronat des Freiherrn vom Stein gegründeten Unternehmens zur Herausgabe der Quellen der deutschen Geschichte des Mittelalters muss sich Schieffer auch durch sein Organisationstalent empfohlen haben. Aber dieses Talent zeigte sich, was ungewöhnlich ist, zuerst in der Organisation der eigenen Arbeit, schon in Schieffers Jugend, als diese Arbeit notwendigerweise noch hauptsächlich Zuarbeit war. Noch ungewöhnlicher ist, dass seine Arbeit bis zuletzt wesentlich auch Zuarbeit blieb.
Sein höchster Ehrgeiz
Schieffer stritt für die Autonomie der Wissenschaft mit freimütigen Worten in Verhandlungen mit Beamten und Politikern, aber am hartnäckigsten dadurch, dass er von der Autonomie Gebrauch machte und Wissenschaft praktizierte – und nicht etwa nach Erreichen von Amt und Würden nur noch dirigierte, resümierte und simulierte. Seine Rezensionstätigkeit, die sich nicht auf das „Deutsche Archiv“ beschränkte, war eine Übung permanenter Evaluation: Praktizierte Selbstkontrolle sollte die Fremdbestimmung der Wissenschaft überflüssig machen. Die mit „R.S.“ gezeichneten Buchanzeigen waren, wie Martina Hartmann als Herausgeberin des „Deutschen Archivs“ hervorhob, immer knapp und präzise.
Bei der Beurteilung von Publikationen ging Schieffer demnach gar nicht anders ans Werk als bei der Kommentierung von Quellen. Das editorische Handwerk hatte er buchstäblich in der Kinderstube erlernt, bei seinem Vater Theodor Schieffer. Als Fuhrmann ihn 1994 für die Historische Kommission vorschlug, erwähnte er, dass Schieffer schon vor der Promotion grundlegende hilfswissenschaftliche Beiträge publiziert hatte. Prägend war für ihn nach Einschätzung von Claudia Märtl, dass er als Bonner Hilfskraft des Althistorikers Johannes Straub ein Register zur Aktenedition der ökumenischen Konzilien erstellte, dessen drei Bände an erster Stelle der Monographien in seinem Schriftenverzeichnis stehen. Immer seien ihm Register besonders wertvoll gewesen, weil sie den Blick für Begriffe zu schärfen geeignet sind. Im erweiterten Sinne hatte Schieffers gesamte Arbeit einen hilfswissenschaftlichen Zug: Seine Schriften sollten Hilfsmittel für Mitforscher sein.
Für die Fortsetzung der Edition der Briefe des Erzbischofs Hinkmar von Reims, eines Kirchenpolitikers des neunten Jahrhunderts, deren erster Bearbeiter Ernst Perels 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg gestorben war, hatte Fuhrmann den jungen Schieffer engagiert. Als Altpräsident der MGH konnte Schieffer 2018 den zweiten Teilband der Briefedition in Druck geben. Die Belegexemplare erreichten ihn nicht mehr. Auf dem Bonner Schreibtisch lagen bei seinem Tod die Sonderdrucke seines letzten zu Lebzeiten gedruckten Aufsatzes, nach Empfängern sortiert. Historiker der mediävistischen Netzwerke werden die Registratur seines Sonderdruckversands benutzen.
Sie werden auch die Münchner Gedenkreden studieren. Beide brachten in bemerkenswerter Offenheit Differenzen zwischen Schieffer und den ihm am engsten vertrauten Fachgenossen zur Sprache, die mit seinem Abschied als MGH-Präsident aktenkundig wurden. In dem Amt, nach dem sein Vater vergeblich gestrebt hatte, war er in der Wahrnehmung von Martina Hartmann ohnehin „persönlich nie ganz glücklich“ geworden. Unter dem Druck der Wissenschaftspolitik wurden in den MGH wie in der Historischen Kommission Reformen ins Werk gesetzt oder erwogen, welche die Verfassung der Wissenschaft bedrohten, wie er sie verstand: die gemeinschaftliche Organisation selbständiger Arbeit durch Gelehrtenvereinigungen, die sich durch Wahl ergänzen. Dass in dieser Lage Kollegen die Übernahme des Präsidentenamts der MGH ausschlugen, hat Schieffer, wie Martina Hartmann bezeugte, nicht verstanden. „Für ihn brach eine Welt zusammen.“
Die deutschen Historiker haben Abschied von einem Kollegen genommen, der seinen höchsten Ehrgeiz darein setzte, einer von ihnen zu sein, und in fast übermenschlicher Erfüllung des Ethos der Arbeitsteilung für sie die Arbeit machte.