Streit um Corona-Maßnahmen : Warum nicht die Schule für zehn Tage schließen?
- -Aktualisiert am
Die Leopoldina empfiehlt eine längere Schulschließung. Bild: dpa
Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina schlägt vor, die Schulferien zu verlängern. Den Bildungsministerinnen von Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen passt das nicht. Doch haben sie Gegenargumente?
Die Leopoldina hat empfohlen, die Schulen vom 14. Dezember bis zum 10. Januar zu schließen. Ihr Argument lautet, Schulen vervielfältigten die sozialen Kontakte und seien damit kritische Organisationen für die Ausbreitung des Virus. Zuhause sollen sich nur Personen aus zwei Haushalten treffen, in den Schulen sind es Mitglieder von mehr als zwanzig Haushalten, mitunter acht Stunden lang. Insbesondere die Sekundarstufen tragen zur Epidemie bei; darauf weisen offenbar britische Studien hin. Im ersten Lockdown gelang es in Deutschland, auch mit Schulschließungen, die Zahl der sozialen Kontakte um 63 Prozent zu senken. Derzeit sind sie nur um 43 Prozent zurückgegangen. Das ist, die Todeszahlen zeigen es, zu wenig. Überdies liegt es nahe, Schüler, die Weihnachten mit Verwandten begehen, zuvor eine ausreichende Zeit aus dem Schulgeschehen zu nehmen.
Um welche Zeit geht es? Ein Blick auf die geplanten Ferientermine der Bundesländer zeigt, dass dieser Vorschlag bis zu zehn zusätzliche schul- oder wenigstens unterrichtsfreie Tage bedeuten würde. In Nordrhein-Westfalen wären es sieben Tage Unterrichtsausfall, in Baden-Württemberg desgleichen. Man möchte sagen: ein moderater Vorschlag.
Natürlich verschiebt sich dadurch die eine oder andere Klassenarbeit. Was dagegen spräche, sie an Tagen nachzuholen, die etwa den Osterferien wegzunehmen wären, ist aber nicht zu sehen. Natürlich belasten geschlossene Schulen auch Familien, insbesondere wenn es sich um Grundschulkinder handelt, um Doppelverdiener-Haushalte und um Familien in beengten Wohnverhältnissen. Aber es geht erstens um maximal zehn Tage, in deren Mitte ohnehin Ferien sind. Zweitens sind geteilte Modelle – Grundschulen offen, Sekundarstufe geschlossen oder prinzipieller Wechselunterricht – denkbar. Drittens hat vor der Pandemie auch niemand Rücksicht auf beengte Wohnverhältnisse genommen. Ungleichheiten sollten an ihrem Ort bekämpft werden, hier etwa durch Bau- und Sozialpolitik, aber nicht durch den Versuch, die Pandemiebekämpfung auch noch sozial ausgeglichen zu gestalten. Ein toter Verwandter ist in allen Familien tot.
Wenn man einen Plan hätte
Doch was sagt beispielsweise Yvonne Gebauer (FDP), Bildungsministerin in Nordrhein-Westfalen zum Vorschlag der Wissenschaftler? Es sei ihr „völlig unverständlich“, wie solch eine Äußerung von einer Akademie „in die Öffentlichkeit getragen werden könne“. Der Vorschlag sei „untauglich“. Weshalb er untauglich ist, sagt sie nicht. Zehn Tage längere Ferien oder Digitalunterricht – völlig unverständlich und als Idee der Öffentlichkeit nicht vorzutragen?
Ihre Kollegin aus Baden-Württemberg, Susanne Eisenmann (CDU), stößt ins selbe Horn. Sie hält den Wissenschaftlern vor, „nicht auf der Höhe der Zeit“ zu sein, weil sie sich gegen Gruppenaktivitäten in Sport und Kultur ausgesprochen hätten. Dies sei in ihrem Bundesland schon seit Wochen verwirklicht. Doch abgesehen davon, dass die Empfehlungen der Leopoldina nicht speziell an Baden-Württemberg gerichtet waren: Sportunterricht in Klassen findet dort, der „Corona-Verordnung Schule“ vom 7. Dezember 2020 zufolge, nach wie vor statt. Von den Gruppenaktivitäten des VfB Stuttgart und SC Freiburg ganz zu schweigen. Weshalb also sucht die Ministerin, die demnächst Ministerpräsidentin werden möchte, fadenscheinig und demagogisch Zweifel am Votum der Wissenschaftler zu wecken?
Die Antwort hierauf ist nicht schwierig. Einerseits föderales Gehabe: Wir haben auf jeden Fall eine eigene Meinung, wenn sie auch unsinnig ist. Andererseits werden seit dem Frühjahr die ungeheuerlichsten Bildungsverluste beschworen, die angeblich unaufholbar durch fehlenden Unterricht während der Pandemie entstehen. Tatsächlich aber steht die Schule vor allem als Aufbewahranstalt im Fokus der für sie zuständigen Politik. Zustimmend begleitet von Zurufen wie „Habt euch nicht so, ein bisschen Risiko gibt es immer“ interessiert sich die Schulpolitik für den Unterricht nur insofern, als er unbedingt stattfinden und die Bürokratie möglichst wenig belasten soll. Das ist ein Gesichtspunkt: Schüler können im Klassenzimmer weniger Straftaten begehen, rauchen oder ihren Eltern auf die Nerven gehen. Den Sinn der Schule darin zu sehen, ginge aber zu weit. Der Sinn der Schule ist Bildung, was übrigens nicht das Nacherzählen der Hauptorgane des Fischstoffwechsels bedeutet. Zehn Tage weniger Bildung um der Senkung der Infektionszahlen willen sind nicht so schlimm. Wenn man denn einen Plan hätte, wie sich solche Verluste aufholen ließen. Hat man aber nicht. Nicht einmal für zehn Tage, von denen die Wissenschaftler plausibel machen, sie seien nötig. Weshalb also sind ungebildete Personen Bildungsminister?