Lecture Performance : Theater im Hörsaal
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Wäre optisch eine wunderbare Bühne für forschende Performance-Künstler. Ist allerdings das anatomische Amphitheater der Humboldt-Universität zu Berlin und deren Seziersaal für die Tiermedizin. Bild: Matthias Heyde/HU
Sie soll nicht nur den Lehrbetrieb in den Kulturwissenschaften auflockern. „Lecture Performance“ will Vorlesung und theatrale Inszenierung verbinden. Doch der Erkenntnisgewinn ist zweifelhaft.
Den Hörsaal zur Bühne zu machen ist längst keine Metapher mehr. Kooperationen zwischen Wissenschaften und Künsten beschränken sich heute nicht auf Laudationes bei Preisverleihungen oder Einladungen von Schriftstellern zwecks Auflockerung des Lehrbetriebs. Vielmehr wird, im Zuge der „performativen Wende“ der Kulturwissenschaften, der Inszenierungscharakter universitärer Wissensvermittlung - von Vortrag, Vorlesung und Seminar - zum wichtigen Gegenstand der Forschung und Lehre erhoben, während man sich umgekehrt vom unmittelbaren Kontakt mit Künstlern neue Einsichten in die Erzeugung von Wissen erhofft.
Der Philologe George Steiner hat in seinem Buch „Von realer Gegenwart“ an US-amerikanischen Universitäten schon vor fünfundzwanzig Jahren die Neigung zu „Vertraulichkeiten zwischen dem schöpferischen Prozess und analytisch-diskursiver Reflexion“ bemerkt: „Der Dichter, Dramatiker, Komponist, Cineast bekommt Raum und Tafel, einen Workshop, eine unfreiwillige Zuhörerschaft. Der akademische Bereich profitiert seinerseits davon, dass er sich erneuernden Strömungen (…) ausgesetzt sieht. Er wird zum Zeugen von Werken bei ihrer Entstehung.“ Die Distanz zwischen Schöpfung und Deutung, die Steiner von dieser falschen Unmittelbarkeit bedroht sah, ist durch die Rezeptionsästhetik und die Betonung der Handlungsdimension aller Sprache durch die Performativitätstheorie immer weiter reduziert worden.
Die neueste Erscheinungsform dieser Entwicklung kannte Steiner noch nicht. Im Genre der „Lecture Performance“, ohne das seit einigen Jahren kaum ein Symposion oder Kunstfestival auskommt, soll die Grenze zwischen Wissensvermittlung und theatraler Darbietung praktisch aufgehoben werden. Entwickelt wurde die „Lecture Performance“ in den Tanz- und Theaterwissenschaften, die sich von den übrigen Kultur- und Geisteswissenschaften durch die enge Verbindung von theoretischer Begriffsbildung und praktischer Übung auszeichnen. So lassen sich Bertolt Brechts oder Antonin Artauds Theatertheorien kaum ohne innige Kenntnis der von ihnen erarbeiteten Körper-, Sprach- und Ausdruckstechniken verstehen; für das vom Prinzip der Nachahmung emanzipierte moderne Tanztheater gilt das erst recht.
Performance-Künstler werden zu Forschern
Die Pointe der „Lecture Performance“ besteht jedoch darin, dass sie sich nicht auf die Beschäftigung mit Bühnenkunst beschränkt, sondern den Unterschied zwischen Bühne und Hörsaal überhaupt einebnet. Auf diese Weise können Performance-Künstler, deren Werk zuvor Gegenstand wissenschaftlicher Deutung gewesen ist, zu „Forschern“ avancieren, die zur Vermittlung neuer Einsichten scheinbar nicht mehr aufs Medium diskursiver Sprache und theoretischer Begriffsbildung angewiesen sind. So hält die Performancekünstlerin Marina Abramović an der Wiener Universität für Angewandte Kunst „Lecture Performances“ ab, um „neue Denkräume“ zu eröffnen, und der Molekularbiologe und Choreograph Xavier Le Roys vermischt in seinen Darbietungen naturwissenschaftliche und medizinische Theorien mit der theatralen „Verkörperung“ eigener autobiographischer Erfahrungen, um die Grenze zwischen Kunst und Diskurs aufzuheben.