Jura für Senioren : Jeden Tag an der Uni – mit 71 Jahren
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Jura hält jung: Auch Dozent Rainer Erd, 72 Jahre alt, will sich als Rentner nicht langweilen. Bild: Maria Klenner
Wenn Senioren studieren, interessieren sie sich eigentlich für weiche Fächer wie Kunstgeschichte. Aber wie steht es nach der Rente um die Begeisterung für Jura? Die Frankfurter Goethe-Uni hat das jetzt ausprobiert.
Der Kollegblock von Peter Porath ist zwei Daumen dick. Stolz holt ihn der 71 Jahre alte Mann mit dem dicken Pulli aus dem schwarzen Rucksack, schlägt wahllos nacheinander mehrere Seiten auf und führt damit vor: Alle Blätter sind vollgeschrieben. „Das ist das Ergebnis von vier Wochen an der U3L“, sagt Porath. Die Universität des dritten Lebensalters an der Goethe-Uni ist so etwas wie sein zweites Zuhause.
Dort studieren vor allem Menschen, die aus dem Berufsleben ausgeschieden sind. Menschen wie der ehemalige Taxi-Unternehmer Porath, der, seit er vor elf Jahren in den Ruhestand ging, dort eingeschrieben ist. Mittlerweile ist er im 21. Semester. Jetzt sitzt er in der letzten Reihe in Raum 114 der Neuen Mensa auf dem Campus Bockenheim, hat die Beine übereinander geschlagen und schreibt eifrig mit. Vorne referiert Dozent Rainer Erd im Seminar „Recht für Internet-Nutzer“ über Fallstricke in allgemeinen Geschäftsbedingungen, die man beim Online-Shopping kennen sollte.
Für Peter Porath und die anderen 30 Zuhörer in dem vollbesetzten Raum ist das eine Premiere. Philosophie, Kulturgeschichte, Musikwissenschaften: diese Fächer hat die U3L seit vielen Jahren im Programm. Erstmals gibt es dort nun ein Jura-Angebot. „Ich war mir nicht sicher, ob das funktionieren würde“, sagt Rainer Erd. Seine Sorge hat sich aufgelöst: Der kleine Raum ist voll, die Diskussion äußerst rege. „Es geht richtig hoch her bei uns“, findet Erd.
„Das Leben als Rentner ist nicht mehr so anspruchsvoll“
Der ehemalige Hochschullehrer ist im Alter von 72 Jahren immer noch als Lehrbeauftragter an der Hochschule Darmstadt tätig. Vor einem Jahr hörte er dort von dem Angebot der U3L in Frankfurt, die montags bis freitags in der Regel zwischen 8 und 20 Uhr Seminare veranstaltet. Jurist Erd, Ende der Sechzigerjahre selbst Student der Goethe-Uni, schlug ein Seminar in seinem Spezialgebiet vor. Sein Engagement an der Uni erklärt er so: „Das Leben als Rentner ist nicht mehr so anspruchsvoll. Da geht es mir nicht anders als den Teilnehmern selbst.“
Einer von ihnen ist Manfred Jenal, Wirtschaftsprüfer, inzwischen in Rente. Vor ihm liegt das Bürgerliche Gesetzbuch aufgeschlagen auf dem Tisch. „Ich möchte mich auf dem Laufenden halten“, sagt er und lobt die angenehme Atmosphäre unter Gleichgesinnten an der U3L: „Wir lernen hier ohne Druck, ohne Erfolgskontrollen.“ Das Leben werde im Alter immer ruhiger, die Kinder seien aus dem Haus. Für Jenal ist die Uni der ideale Ausgleich zum Alltag und eine Gelegenheit, sich fit zu halten – geistig, aber auch körperlich: Im Sommer kommt er mit dem Fahrrad von seinem Heimatort Bad Soden hierher.
3616 Männer und Frauen sind derzeit an der U3L eingeschrieben, etwa 60 Prozent davon sind Frauen. Das Durchschnittsalter beträgt 71 Jahre, der älteste Student ist 93. Auch wenn es kein Mindestalter für ein Studium an der U3L gibt: Im Jura-Seminar von Erd verfügen die Teilnehmer über reichlich Lebenserfahrung. Die meisten tragen eine Lesebrille, an der Garderobe hängen neben den Jacken einige Hüte. 110 Euro beträgt die Semestergebühr an der U3L. Wer sie zahlt, kann so viele Angebote wahrnehmen, wie er möchte.
42 Referate in 21 Semestern
Peter Porath tut das. „Von montags um acht bis freitags um vier“ sei er an der Uni, zwischen 32 und 38 Wochenstunden sind für den Frankfurter normal. In den 21 Semestern hat er auch schon 42 Referate zu unterschiedlichsten Themen gehalten. „Ich habe einfach Spaß daran, mir neues Wissen anzueignen.“
Die Themen an der U3L sind bewusst wenig wissenschaftlich ausgerichtet. Auch Rainer Erd hat bei der Auswahl seines Seminarthemas darauf geachtet, etwas zu finden, was den Alltag der Menschen berührt. „Jura“, das höre sich für viele sehr theoretisch und komplex an, findet er. Aber gerade Ältere machten sich zum Beispiel beim Einkauf im Internet Gedanken über rechtliche Fragen. Darauf will Erd eingehen.
Auch er trägt im Seminar eine Lesebrille, die oberen beiden Hemdknöpfe sind geöffnet, im Stehen geht er die Folien und die Fälle durch. Beim letzten Mal ging es um das Recht, Internetbestellungen zurückzugeben, an diesem Tag befasst man sich mit allgemeinen Geschäftsbedingungen; nächste Woche soll die Frage behandelt werden, wer in öffentlichen W-Lan-Netzen haftbar gemacht werden kann – der Netzbetreiber oder der Nutzer. Auch das Urheberrecht, das gerade beim Herunterladen von Inhalten aus dem Web relevant ist, und unlauterer Wettbewerb sollen noch erörtert werden.
Ein ehemaliger Flugkapitän, ein Informatiker, zwei Beamte
Für Erd ist der Unterricht an der U3L eine neue Erfahrung. Normalerweise doziert er vor jungen Leuten, jetzt hat er es überwiegend mit Senioren zu tun: Ein ehemaliger Flugkapitän ist darunter, ein Informatiker, zwei Beamte. Obwohl sein Seminar erst um 10.15 Uhr beginne, seien schon kurz nach zehn alle Plätze besetzt – „das kennt man bei den jungen Leuten ja nicht so“. Auch die Diskussionskultur sei anders. In den „normalen“ Seminaren müsse er die Studenten zum Mitmachen animieren, bei den Senioren müsse er hingegen eher darauf achten, keine der zahllosen Wortmeldungen zu übersehen.
Das ist auch diesmal so. Niemand tritt belehrend auf, andere Meinungen werden respektiert. Am Ende entwickelt sich eine rege Diskussion über Fragen von Sorgfaltspflicht bei Anbietern im Netz.
Auch Peter Porath hat eifrig mitdiskutiert und sich Notizen gemacht. Jetzt packt er seine Unterlagen wieder in den Rucksack, steckt den Kuli zwischen die anderen Stifte im vorderen Fach und zieht eilig den Reißverschluss zu. „Ich muss weiter. Zum nächsten Seminar. “ Dort, in Raum 120, geht es um die soziale Rolle älterer Menschen. Das will er nicht verpassen. Und der neue Block in seiner Tasche ist noch leer.