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Einstellungsverfahren : Wie sich mit Daten tief in die Persönlichkeit blicken lässt

  • -Aktualisiert am

Am Ende muss ein Mensch jede Einstellungsentscheidung treffen, da gibt es nichts zu diskutieren. Bild: picture alliance / dpa-tmn

Neue Technologien sollen Entscheider vor hartnäckigen Vorurteilen schützen. Am Ende aber muss ein Mensch entscheiden, ob ein Bewerber eingestellt wird oder nicht. Ein Gastbeitrag.

          3 Min.

          Alle Menschen sind in der einen oder anderen Weise voreingenommen. Entscheidungsprozesse zeigen das besonders deutlich, wenn man sie statistisch betrachtet. Ein Team um den Nobelpreisträger Daniel Kahneman beschreibt die irrationalen Verzerrungen bei der Entscheidungsfindung als eine Art Lärmverschmutzung, die uns davon abhält, den eigentlich wichtigen Ton zu hören.

          Die Praxisbeispiele der Forscher geben zu denken: In einem Gericht in Miami gibt der eine Richter 88 Prozent der Anträge auf Asyl statt, ein anderer nur fünf Prozent. Ärzte neigen eher dazu, am Ende eines langen Tages opiumhaltige Schmerzmittel zu verschreiben als mit frischer Kraft am Morgen. Eine Versicherung stellt fest, dass ihre Underwriter bei den Versicherungspolicen bis zu 55 Prozent Varianz in den errechneten Prämien produzieren.

          Was Technik bewirken kann

          Wir fällen aber nicht nur andere Entscheidungen als unsere Kollegen, wir widersprechen auch unseren eigenen Voten. Gibt man Wein-Testern die gleiche Auswahl an Proben ein zweites Mal, fällt ihr Urteil oft anders aus als in der ersten Runde.

          Was diese Verzerrungen im menschlichen Urteil für die Entscheidungsprozesse in der Personalauswahl bedeuten, liegt auf der Hand. Selbst bei identischer Papierform bekommt im Interview der Kandidat die Aufmerksamkeit und schließlich die Position, der am besten zu den – oft unbewussten – Erwartungen und Vorurteilen des Personalentscheiders passt. Fair und unvoreingenommen? Fehlanzeige. Nicht der am besten geeignete Mensch ergattert den Job, sondern der „gefälligste“.

          Die gute Nachricht ist: Mit der Technologie von Anbietern wie Cammio, Retorio oder Viasto lässt sich das ändern. Mithilfe automatisierter Videointerviews, Künstlicher Intelligenz und selbstlernender Systeme lassen sich Verhaltenshinweise von Bewerbern wie Gesichtsausdruck, Körpersprache und Stimme analysieren, um ein Persönlichkeitsprofil zu erstellen.

          Manipulation weiter möglich

          Transkribiert man dazu das im Interview gesprochene Wort und analysiert den Sprachgebrauch, entsteht ein tiefer Einblick in die Persönlichkeit des Bewerbers auf Grundlage beobachteter Verhaltensweisen – ein tieferer zumindest als die üblichen fragebogengestützten Selbsteinschätzungen.

          Fragebogenbasierte Persönlichkeitsbeurteilungen sind in Personalabteilungen weit verbreitet. Doch bei diesen Tests reichen ein paar absichtlich falsch gesetzte Kreuze auf dem Papier, um die Selbstdarstellung zu verändern. Natürlich können auch Bewertungen durch ein KI-gestütztes Beobachterrating manipuliert werden, doch da muss ein Kandidat schon sehr überzeugend schauspielern können.

          Anbieter von KI-gesteuerten Personalauswahlwerkzeugen, die Vorurteile aus der Personalauswahl herauszufiltern helfen, wie beispielsweise Retorio setzen auf Deep-Learning-Modelle. Dahinter verbergen sich Computer, die darauf trainiert sind, menschenähnliche Aufgaben auszuführen, etwa Sprache zu erkennen oder Emotionen aus Videodaten zu identifizieren.

          Am Ende muss der Mensch entscheiden

          Christoph Hohenberger und Patrick Oehler, beide an der TU München ausgebildete Verhaltenspsychologen und die Köpfe hinter Retorio, sagen: „Wir können durch Deep Learning die Genauigkeit und Leistung unserer neuronalen Netze verbessern. Durch verbesserte Algorithmen und mehr Rechenleistung können wir unseren Vorhersagen zur Persönlichkeit und Kultur mehr Tiefe verleihen.“

          Zudem biete Deep Learning die Chance, dynamischeres Verhalten in die Analytik einzuführen. Stellt ein Unternehmen entsprechende Informationen über seine Teams und die Menschen, die es einstellen will, zur Verfügung, entwickelt Retorio sich ständig verbessernde Modelle, die in der Bewerberauswahl nach den Personen und Eigenschaften fahnden, die innerhalb der Organisation erwünscht sind.

          Dabei fließen nur Faktoren, auf die der Bewerber Einfluss hat, in die KI-Auswertung ein, denn die Datensätze kennen zum Beispiel die Mittelwerte für verschiedene Persönlichkeitsmerkmale von weißen und schwarzen, jungen und alten Menschen oder Männern und Frauen. Gibt es bei Kandidaten signifikante Mittelwertunterschiede, die auf eine Gruppenzugehörigkeit zurückzuführen sind, werden diese herausgerechnet, um so diskriminierende Verzerrungen in den Trainings- und Testdatensätzen auszugleichen.

          Am Ende muss ein Mensch jede Einstellungsentscheidung treffen, da gibt es nichts zu diskutieren. KI und Deep Learning können jedoch Entscheidern dabei helfen, sich ihrer eigenen Prägung und der daraus resultierenden Erwartungen und Vorurteile bewusst zu werden. Denn schließlich sind nur informierte Entscheidungen gute Entscheidungen.

          Heiner Thorborg berät seit 1989 Firmen auf der Suche nach Führungskräften.

          Lucas Bechtle ist Managing Partner und Gründer der Personalberatung Digital Future.

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