Lebensumbruch : Unruhe vor dem Ruhestand
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Ein Rentner macht ein Puzzle Bild: Josep Rovirosa / Westend61 / var
Wartet auf angehende Rentner ein großes Loch oder die große Freiheit? Was in diesem letzten Karriereabschnitt hilft.
Dreißig Jahre Schichtdienst, Nachtdienst, Jugenddienst – kurz vor seinem 61. Geburtstag fühlte sich Jakob Gillen ausgebrannt. Und zu alt für die Arbeit mit sinnesgeschädigten Jugendlichen, die der Erzieher in Wohneinheiten rund um die Uhr betreut hatte: „Ich merkte, so richtig interessierten mich die Jugendthemen nicht mehr“, sagt Gillen, der seinen richtigen Namen lieber geheim halten möchte. Auf der einen Seite zu wenig Neues, auf der anderen zu viel Belastung: „Ich war einfach nicht mehr so locker wie in jungen Jahren.“ Seine Ärztin schrieb ihn krank - insgesamt für anderthalb Jahre. Doch was sich anfangs wie ein Vorruhestand ohne Abschläge anfühlte, machte am Ende depressiv: Der Erzieher fiel in ein Loch voller Selbstzweifel. „Das Gebrauchtwerden, die Rückmeldung und die Struktur eines Arbeitsalltags sind wichtig“, sagt er heute.
Vielen geht es wie ihm: Eigentlich ein Glück, wenn man das Rentenalter noch einigermaßen gesund erreicht, aber eben auch ein endgültiger Abschnitt, mit dem sich viele schwertun: Wer will schon gern zum alten Eisen gehören? Folgt man einer Veröffentlichung des Londoner Zentrums für besseres Altern, macht sich eine beträchtliche Anzahl von angehenden Ruheständlern Sorgen: Nur rund die Hälfte der Befragten, die in den nächsten fünf Jahren aus dem Erwerbsleben ausscheidet, freut sich darauf.
Das Rentenalter als tiefes Loch oder große Freiheit? Altersforscher haben noch eine dritte Sichtweise: Für viele Menschen wird der Übergang von gesundheitlichen und sozialen Veränderungen begleitet, die das Alter unabhängig von der Erwerbsbeteiligung mit sich bringt. Sind diese vermeintlich nüchternen Realisten die zahlenmäßig größte Gruppe? „Dazu gibt es keine belastbaren Zahlen“, sagt Frank Micheel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB). Der Demografie-Forscher ist involviert in eine Langzeitstudie namens TOP („Transitions and Old Age Potential“), die Übergänge in den Ruhestand analysiert. Eines der Ergebnisse: „43 Prozent der Befragten, die gerade in den Ruhestand eingetreten sind, haben keine Vorstellung, was sie mit ihrer Zeit anfangen wollen.“ Um älteren Arbeitnehmern zu helfen, schlägt er erweiterte „Rentenstunden“ vor: „Große Unternehmen bieten schon Gespräche zu rechtlichen und finanziellen Rentenaspekten an.“ Sie sollten künftig auch die immateriellen Ziele einbeziehen, fordert er. Das sei eine Form der Wertschätzung für langjährige Mitarbeiter und öffne auch die Option, sie über die Regelarbeitszeit hinaus zu halten.
„Dass im Alter nichts mehr passiert, ist ein Vorurteil“
Im betrieblichen Gesundheitsmanagement der Berliner Verwaltung hat man die Zeichen der Zeit schon erkannt. Mitarbeiter der Bezirksämter dürfen das Fortbildungsangebot der Diplomsoziologin Katharina Mahne rund um den Ruhestand kostenfrei besuchen. „Dass im Alter nichts mehr passiert, ist ein Vorurteil. Es bleibt spannend“, sagt sie. Lange hat Mahne am Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) das Alterssurvey, eine Langzeitstudie zum Thema Alter und Älterwerden geleitet. Bis sie beschloss, ihr Know-how mit den Menschen zu teilen, um die es geht: Die Wissenschaftlerin absolvierte eine Weiterbildung zum systemischen Coach. In Mahnes Beratung geht es immer wieder um die gleichen Themen: finanzielle Einbußen, Zeitgestaltung und Sinngebung. Aber auch Partnerschaft, Erwartungen der anderen, Gesundheit und Attraktivität kommen auf die Agenda. Neulich kam zum Beispiel eine 56 Jahre alte Frührentnerin, die daran zu knacken hatte, dass ihr Umfeld noch arbeitet. Ein anderes Mal suchte eine Führungskraft Rat, die sich nicht für einen Nachfolger entscheiden konnte. Probleme, die sich mit System und Kreativität lösen lassen, sagt Mahne: „Ältere Menschen sind sozial besser eingebunden als früher, und die Altersbilder haben sich positiv gewandelt.“
Die Forscher des BIB haben ermittelt, dass mittlerweile jeder neunte Deutsche im Alter zwischen 65 und 74 Jahren einer bezahlten Tätigkeit nachgeht. „Ohne Einbeziehung von Schwarzarbeit“, sagt Micheel. Er führt die Entwicklung, die sich seit 2010 deutlich beschleunigt hat, auf finanzielle wie immaterielle Gründe zurück. Wobei es eher die Privilegierten seien, die durch Weiterarbeit ihren hohen Lebensstandard halten und beispielsweise noch ihre Nachfolge stunden- oder projektweise einarbeiteten. „Aber da ist Deutschland schon ein Spezialfall. In angloamerikanischen Ländern zwingt die niedrige Alterssicherung eher sozial schwache Schichten in den Unruhestand.“
Im Bundesinstitut werden grundsätzlich auch unbezahlte Tätigkeiten wie Ehrenämter, Nachbarschaftshilfen oder Familienarbeit zum aktiven Ruhestand gezählt. Allerdings zeigt sich, dass sich besonders Rentner gesellschaftlich engagieren, die das auch schon in jungen Jahren getan haben.
Für fast alle gilt: „Im Ruhestand rächt sich, wenn man sich zu wenig mit sich selbst beschäftigt hat“, sagt Mahne. Sie rät dazu, schon mit Mitte 50 über die nächsten zehn Jahre nachzudenken, Projekte zu definieren, die man noch erledigen will, und Dinge auszuprobieren, die man sich für den Ruhestand vorgenommen hat. Im Wohnmobil um die Welt reisen, beispielsweise. „Meine Eltern haben das getan - und hätten es lieber vorher einmal testen sollen.“
Jakob Gillen hat gemalt, gefaulenzt und online eingekauft, ist Rad gefahren oder mit seiner Partnerin an die Ostsee – alles schön, aber auf Dauer nicht genug. Jetzt kehrt er mit 62 Jahren noch einmal an seinen alten Arbeitsplatz zurück, zunächst aufgrund alter Urlaubsansprüche verkürzt auf drei Tage die Woche. Laut DZA hat die Lebenszufriedenheit im Alter zwei Voraussetzungen: Bildung und die Tatsache, dass man aus der Erwerbstätigkeit und nicht aus der Arbeitslosigkeit in den Ruhestand übergeht. Jakob Gillen ist also auf gutem Wege.