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Kinderbetreuung : Krippenöffnung bis in die Nacht?

  • -Aktualisiert am

Mittagessen in einer Hamburger Kinderkrippe. Doch muss es auch „Vollpension“ sein? Bild: dpa

Die Wirtschaft fordert, dass Kinderkrippen sonntags und nachts öffnen. Das würde ihr so passen. Aber die Familien haben auch ein Recht auf Faulheit.

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          Manchmal täuschen wir uns über unsere Freiheit. Es gibt, die Arbeit betreffend, zwei Begriffe von Freiheit, die so unterschiedlich sind wie Winter und Sommer. Das eine ist die Freiheit, arbeiten zu gehen, und das andere ist die Freiheit, nicht arbeiten gehen zu müssen.

          Am Beispiel des Krippenausbaus, über dessen Fortschritt die Ministerinnen und Minister von Bund und Ländern an diesem Donnerstag verhandeln, werden beide Freiheitsbegriffe anschaulich. Als persönlichen Freiheitsgewinn empfindet zum Beispiel eine Mutter, Anfang dreißig, das Krippenangebot.

          Sie erzählte, ihr einjähriger Sohn habe sich schnell eingefunden, denn er sei ein selbständiger Charakter. Bei anderen Kindern gebe es Probleme, doch wenn sie ihn abends abhole, „dreht er sich nicht mal nach mir um“. Das wird wohl stimmen, auch die Wahrnehmung des Sachverhalts als Freiheitsgewinn. Womöglich ist sie aber etwas eindimensional. Es handelt sich um einen Gewinn von Selbständigkeit und Ungebundenheit, um eine Freiheit voneinander. Aber was können Kleinstkinder mit einem solchen Begriff von individualistischer Freiheit anfangen?

          Starre Betreuungszeiten passen nicht mehr

          Die politische Krippenoffensive befasst sich derzeit mit Verbesserungen der Betreuungsqualitätsstandards. Sie ist aber zunehmend auch mit Forderungen nach verlängerten Öffnungszeiten der Einrichtungen konfrontiert. Vor Beginn des Gipfels äußerten Wirtschaftsverbände und die Arbeitsagentur den Wunsch, dass die Kitas abends und an Wochenenden öffnen. Für Schichtarbeiter, Ärzte, Kellnerinnen und Callcenterarbeiter, denen es wenig nützt, dass die Kommunen in den vergangenen Jahren die Zahl der Betreuungsplätze für Unter-Drei-Jährige verdoppelt haben. Denn die bestehenden Plätze nützen nur morgens bis nachmittags arbeitende Eltern.

          Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, sagte, solche „starren Betreuungszeiten“ (gemeint ist etwa: von 8 Uhr bis 17.30 Uhr) passten nicht mehr „zur heutigen Lebens- und Arbeitswelt“. Eine Erweiterung würde familiär gebundene Fachkräfte länger verfügbar machen. Vor allem Alleinerziehende und gering-Qualifizierte.

          Spielwiese für Anleger : Kindertagesstätten als Investitionsobjekt

          Zwar sprach er nicht von Freiheit, aber der Vorschlag polarisiert, weil es um Freiheiten geht. Und weil nicht jeder das Gleiche darunter versteht. Der Glaubenskrieg um die Krippen ist - abgesehen davon, dass viele Eltern die Betreuungsangebote benötigen, weil sie das Einkommen brauchen - ein Konflikt von zwei Freiheitsbegriffen. Auf der einen Seite der Freiheit zur Selbstbestimmung. In dieser Perspektive ist der Krippenausbau ein kulturelles Fortschrittsprojekt.

          Mit Familienfreundlichkeit hat das wenig zu tun

          Dagegen steht ein Begriff von der Freiheit der Mütter und Väter, einige Jahre mit ihren Kindern zu verbringen. Also einer Freiheit, mal nicht arbeiten zu müssen - oder zumindest den späten Nachmittag, den Abend, das Wochenende gemeinsam zu haben. Weil es Freude macht, oder weil sie es kindgerecht finden. Das muss nicht wertkonservativ motiviert sein, sondern hat auch eine Verwandtschaft zur anarchistischen Idee von einem „Recht auf Faulheit“. Dieses gibt es natürlich nicht. Der Mensch muss sich der Arbeitswelt anpassen: umziehen, umschulen, auf Dienstreise gehen. Dafür bekommt er ein Einkommen und die Chance zur Entwicklung. Aber die Anpassung an die Wirtschaft hat Grenzen, umso mehr, wenn Kinder ins Spiel kommen.

          Die nächste Stufe des Krippenausbaus nach den Phantasien der Wirtschaft könnte zum Beispiel so aussehen: Die alleinerziehende Mutter beendet um kurz nach 24 Uhr ihre Spätschicht im Rewe und holt das seit Stunden schlafende Kind aus der Krippe ab. Der Lastwagenfahrer weckt seine Tochter um halb vier Uhr morgens und bringt sie in die Kita. Es gibt Krippen mit Ganztags- und Nachtbetreuung, für Berufspendler auch tagelang ohne Unterbrechung. Wie in Amerika oder im Sozialismus der DDR. Dort allerdings geschah die Krippenbetreuung nicht aus reiner Familienfreundlichkeit - sondern um Frauen möglichst schnell wieder in die Produktion zu bringen.

          Je mehr Angebote es gibt, desto selbstverständlicher werden Eltern sie annehmen und die Unternehmen das für selbstverständlich halten. Das zeigt die bisherige Geschichte des Krippenausbaus. Im siebten Jahr nach von der Leyen hat sich unser Bild von der Familie normiert. Aus einer Vielfalt von Entwürfen hat sich, zumindest im bürgerlichen Mittelschichtsmilieu der Städte, ein Modell der Normalfamilie herauskristallisiert: Ein Jahr Elternzeit der Frau, zwei Monate für den Mann, danach geht das Kind in die Krippe, und die Eltern arbeiten. Wer abweicht, macht die Erfahrung, sich erklären zu müssen, ob am Arbeits- oder auf dem Spielplatz: Das gilt für Männer, die länger oder gar keine Elternzeit nehmen, Frauen, die kürzer nehmen, und Frauen, die länger gehen. Sie sind der Großteil der Nichtnormalen.

          Gibt es ein Angebot, steigt der Bedarf

          Gäbe es ein „bedarfsgerechtes“ Krippenangebot auch nachts und am Wochenende, dann würde der Bedarf steigen. Denn ein Arbeitnehmer wird sich erklären müssen, wenn er die Angebote nicht annimmt. Und die Allianz für verlängerte Öffnungszeiten ist ziemlich groß und ungewöhnlich parteiübergreifend. Mehr als tausend Unternehmen, Arbeitgeberverbände, das Bundesfamilienministerium und der Deutsche Gewerkschaftsbund setzen sich im Netzwerk „Erfolgsfaktor Familie“ zwar auch für Teilzeitarbeitsmodelle ein („mehr Zeit für Familie“), andererseits aber auch „flexiblere“ Öffnungszeiten.

          Wirtschaftsverbände beklagen einen Mangel an Wochenendöffnungszeiten, in diesem Sommer forderte der hessische Industrie- und Handelskammertag Krippenbetreuung bis nach 18 Uhr. Die Politik müsse „am Ball bleiben“. Weil die Freiheiten, um die es geht, unterschiedlich sind wie Winter und Sommer, ist es so, dass einige Parteien auch kräftig an beiden Enden des Taus ziehen.

          Die Gewerkschaften sind tief gespalten. Einerseits wollen sie Frauen am Arbeitsmarkt gleichstellen, andererseits kämpfen sie für ein Recht auf Teilzeit - also einer Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, die beiden Freiheiten nebeneinander Raum lässt. So klingt es bei Elke Hannack, stellvertretende DGB-Vorsitzende: „Wir brauchen flexiblere Kita-Öffnungszeiten, aber nicht auf dem Rücken der Beschäftigten“, und: „Die Beschäftigten müssen mitbestimmen können über Dauer, Lage und Takt ihrer Arbeitszeiten.“ Ähnlich ambivalent hört sich die Familienministerin Schwesig von der SPD an.

          Emotionalisierter Fluchtpunkt

          Unter einflussreichen Ökonomen klingt die Sache ganz eindeutig. Holger Bonin, Arbeitsmarktforscher am ZEW Mannheim und Studienautor für das Bundesfamilienministerium, sagt: „Es gibt keinen Grund, warum der Staat bestimmte Arten von Jobs, die relativ normal sind, nicht unterstützen sollte.“ Die empirische Norm wird zum Maßstab für die Politik. Die Logik ist bestechend: Mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmer arbeiteten auch am Wochenende oder abends. „Nachfrage danach dürfte es geben.“

          Bonin hält es für ein sinnvolles Ziel der Politik, Eltern schnell nach dem ersten Lebensjahr des Kindes in eine adäquate Beschäftigung zu bringen. Sonst drohe ihnen, das zeigten die Daten, eine lebenslange Beschäftigung in Minijobs. „Wenn eine Entfremdung vom Arbeitsmarkt einsetzt, destabilisiert das die Familien finanziell, und das zieht wieder Folgekosten nach sich.“ Gemeint sind: Verringerte Renten, geringere Unterhaltszahlungen im Scheidungsfall.

          Familien hingegen empfinden sich selbst nicht in erster Linie als Finanz- und Sparerclub. Sie sehen sich nicht selten als Gegenmodell zur Arbeitswelt. Familie werde zum „emotionalisierten Fluchtpunkt in einer ökonomisierten Welt“, schreibt die Soziologin Karin Jurczyk vom Deutschen Jugendinstitut. Gerade in einer Zeit, in der Kategorien wie Humankapital und Vollzeitäquivalent, Kosten und Nutzen auf alle möglichen Lebensbereiche bezogen werden - etwa Fragen nach Bleiben oder Wegziehen, Partnerschaft oder Trennung, Geburt oder Abtreibung.

          „Wir erziehen Kinder zum Schichtdienst“

          Wer gefühlig über die Familie redet, verklärt sie schnell und begibt sich im politischen Raum in die Gefahr, nicht mehr ernst genommen zu werden. Die Ausbau-Allianz steht für die individualistische Freiheit, die sich in nervösen Zeiten schneller erklären lässt, auch Kinderlosen. Sie ist auch eine Karriere- und Konsumfreiheit, die immer nach der „Work-Life-Balance“ sucht. Sie mag auch: Eizellen-Freezing, Ganztagskrippe. Weil dieser Freiheitsbegriff verbreitet ist und besser mit den Anforderungen der Wirtschaft und der Karrieren harmoniert, ist der Krippenausbau kein von oben herab befohlenes Projekt, sondern auch eines vieler Bürger. Das freie Kleinstkind ist das Ideal des Individualisten.

          Viele Eltern selbst wollen längere Öffnungszeiten. Auch nachts. Als unser Reporter eine 24-Stunden-Krippe in Schwerin besuchte, sagte ihm deren Geschäftsführerin Anke Preuß: „Wir erziehen Kinder zum Schichtdienst. Am Ende nutzen diese Kitas nur den Unternehmen.“ Die Erzieher müssten die Eltern oft in ihrem Fremdbetreuungs-Elan („sie sind viel lieber mit anderen Kindern“, „hier lernen sie Selbständigkeit“, „hier lernen sie, sich durchzusetzen“) bremsen.

          Der Staat sieht die Familie nicht mehr als Biotop, sondern will Vätern und Müttern Familienlasten abnehmen - und außerdem sind sie als Erwerbstätige Beitragszahler für die Sozialsysteme. Die Bürger sollen wettbewerbsfähig sein. Alles ist freiwillig. Aber wer die Angebote nicht annimmt, muss damit leben, nicht mehr wettbewerbsfähig zu sein. Die politische Freiheitsförderung auf der einen Seite erzeugt einen Freiheitsverlust auf der anderen. Es ist das Recht von Unternehmen, Betriebs-Kitas zu eröffnen und sie lang zu öffnen. Es ist das Recht der Mitarbeiter, das gut zu finden. Es ist fraglich, warum der Steuer- und Gebührenzahler immer mehr Kitas finanzieren soll.

          Am Ende könnte er sich dafür müde in einer Arbeitswelt wiederfinden, die so unfreundlich aussieht wie in kapitalismuskritischen Büchern aus den siebziger Jahren über die „Entgrenzung der Arbeit“, einer Ausrichtung des ganzen Lebens auf Erwerbszwänge, einer Aufhebung der Grenzen von Erwerbsarbeit und Familie, von Privatheit und Öffentlichkeit. Vielleicht schwindet dann der Glaube daran, dass Wirtschaft und Staat mit dem Krippenausbau auf der Seite der wirklichen Freiheit stehen.

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