Ständige Kontrollen : Der totalüberwachte Mitarbeiter
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Wir sehen alles: Mitarbeiter von Amazon in einem Deckenspiegel bei Schichtwechsel im Vertriebszentrum Koblenz Bild: Kretzer, Michael
Internet-Versandhändler Amazon kontrolliert ganz genau, welchen Weg seine Waren gehen – und seine Mitarbeiter. Damit steht der Online-Riese jedoch nicht alleine da. In Zukunft könnte uns das allen blühen.
Der Strichcode ist im Hause Amazon ein ständiger Begleiter. Unauffällig steht er auf der Firmenkarte, die jedem Mitarbeiter um den Hals baumelt. Sie öffnet ihm die Tore in die Welt der Amazon-Lager. Schon am großen Drehkreuz vor dem Eingang des Amazon-Logistikzentrums in Koblenz geht es los. Erst wenn die Karte vor dem Scanner schwebt und ein Piepen ertönt, dreht sich der schwere Stahlkoloss. Im Geschäftskonzept von Amazon betritt man damit nicht etwa eine ordinäre Lagerhalle, sondern ein „Fulfillment-Center“. In den Worten von Amazon klingt nichts nach harter Arbeit, sondern alles nach Kundenorientierung. Und dabei wird nichts dem Zufall überlassen.
Eine Welt ohne Zufall ist eine Welt unter ständiger Kontrolle. Das ist bei Tausenden von Unternehmen so, ob im Einzelhandel, in der Logistik oder in anderen Branchen. Doch Amazon hat das System perfektioniert, aus Angst vor Diebstahl und um die Arbeitsprozesse zu optimieren. Nach dem Drehkreuz geht es hoch in die Eingangshalle, wo Kameras und Sicherheitsschleusen die Mitarbeiter erwarten. Das Privathandy wird registriert, erst dann darf es mit hinein.
Hinter den Schleusen wartet der nächste Einsatz für die Firmenkarte. An den Scannern dort wird der Arbeitsbeginn dokumentiert. Was früher die Stechkarte war, ist heute der Barcode. Zum Anfang einer Schicht drängen Hunderte von Mitarbeitern durch den Gang. Alle wollen ihre Karte gleichzeitig vor den Scanner halten, deshalb hängen gleich zwanzig von den dunklen Kästen auf jeder Seite. Die Kästen haben Namen, das ist gut für die Stimmung in der Belegschaft. Man kann sich entscheiden, ob man sich über Anna oder Michael ins System einbuchen will.
Amazons Computer saugen pausenlos Informationen
Doch damit hat die Karte noch lange nicht ihren Dienst erfüllt. Innerhalb eines Arbeitstages kommt sie noch viele Male zum Einsatz, je nachdem, in welchem Arbeitsbereich der Mitarbeiter eingesetzt wird. Amazon ist ein gigantischer Umschlagplatz für Waren aller Art: Bücher, elektronische Geräte, sogar Nahrungsmittel kommen durch das Tor hinein. Die Pakete werden ausgepackt, eingescannt und in den Regalen verstaut. Dabei hantieren die Mitarbeiter unablässig mit einem Scanner in der Hand. Zunächst scannen sie damit den Barcode ihrer Firmenkarte. Dann registrieren sie, welche Ware sie wann in welches Regal legen.
„Georgy“ nennen Mitarbeiter diesen Scanner. „Georgy“ wie George Orwell, Verfasser des düsteren Zukunftsromans „1984“, das Standardwerk zur Komplettüberwachung. Das perfekt kontrollierte Einräumen ist die Grundlage für die Arbeit der sogenannten Picker, der Mitarbeiter, die eine Ware wieder ausräumen, sobald eine Bestellung eingegangen ist. Auch die Picker scannen zunächst sich selbst und dann die Produkte, die sie aus den Regalen holen und zur Verpackungsstation bringen. Zum Schluss geht die Bestellung zum anderen Tor wieder heraus.
Das funktioniert nur deshalb tadellos, weil Amazons Computer pausenlos Informationen einsaugen, verarbeiten und die Arbeitsabläufe erstellen. Das „Fulfillment-Center“ in Koblenz ist so groß wie 17 Fußballfelder, und trotzdem weiß Amazon zu jedem Zeitpunkt, an welcher Stelle sich welches Produkt befindet. Eine grüne Laptoptasche, die ein Mitarbeiter zwischen Hundespielzeug und Schlagschrauber gelegt hat, ist nicht etwa für immer verloren wie eine falsch plazierte Karteikarte in der Bibliothek. Für den Computer ist sie jederzeit wieder auffindbar, sobald ein Kunde sie bestellt. Dutzende von Kameras runden den Überwachungsapparat ab. Damit hat Amazon die Abläufe stets unter Kontrolle, hakt ein Fließband, kann jederzeit ein Mechaniker geschickt werden. „Hier bleibt kein Gang unbeobachtet“, sagt der Amazon-Betriebsrat Norbert Faltin.
Leistungsbeurteilung oder Prozessoptimierung?
Den Warenfluss ständig zu überprüfen gehört für Amazon zum Geschäft. Das Problem ist: Auch der Mitarbeiter gerät in den Strudel ständiger Überwachung. Bleibe einer mit seinem Handscanner minutenlang untätig, werde das System nervös und löse einen Alarm aus, berichtet der Betriebsrat. Oft dauere es nicht lange, bis der Manager vorstellig wird. Dann gehe die Fragerei los, sagt Faltin, verpackt in „Feedbackgespräche“. Amazon argumentiert, Kameraüberwachung und die elektronische Datenerhebung dienten der Prozessoptimierung; der Betriebsrat behauptet, das Ziel sei die Leistungsbeurteilung der einzelnen Mitarbeiter. Das wäre aus datenschutzrechtlichen Gründen ein ernsthaftes Problem. Die zuständige Behörde untersucht die Vorwürfe gerade.
In Koblenz jedenfalls finden derzeit keine Feedbackgespräche zur „Prozessoptimierung“ mehr statt, der Betriebsrat ist dagegen vorgegangen. „Solange Feedbackgespräche Druck-Gespräche sind, müssen wir sie untersagen“, sagt Faltin. Wichtig ist die Klärung solcher Fragen auch deshalb, weil die Folgen gravierend sein können. Davon kann Stephan Kamolz ein Lied singen. Er ist leitender Psychiater einer Klinik in Bad Kissingen, die sich auf die Behandlung von Menschen spezialisiert hat, die aus psychischen Gründen nicht mehr arbeiten können. Einen Patienten hatte er schon, der wegen der „totalen Überwachung“ arbeitsunfähig wurde.
Ein Mann, der als Schweißer arbeitete, fühlte sich von seiner Firma ohnehin sehr unter Druck gesetzt. Dann sollten ihn Chips noch genauer kontrollieren. Der Mann wurde sehr ärgerlich, entwickelte erst körperliche Probleme, dann psychische, musste in die Reha. Kamolz findet das nur verständlich: „Die permanente Überwachung aller Schritte mittels Chip oder Computer führt zu einer latenten Unsicherheit, einer latenten Angst, weil man nicht weiß, was mit diesen Daten passiert.“
Überwachung liegt im Trend
Der Fall zeigt auch: Amazon ist nicht das einzige Unternehmen, das über seine Mitarbeiter permanent Daten sammelt, Chips oder Strichcodes einsetzt, immer genau weiß, wo sie gerade sind und vielleicht auch, was sie gerade tun. Nicht nur die Logistikbranche mit ihren häufig sehr schlecht qualifizierten Mitarbeitern überwacht, sondern auch Firmen im Maschinenbau. Die Überwachungsmode greift um sich. „Wir sehen gerade einen massiven Wandel in der Arbeitnehmerüberwachung“, sagt Stefan Brink, der Datenschutzbeauftragte von Rheinland-Pfalz. Noch vor fünf Jahren schaute der Chef persönlich nach dem Rechten. Wenn etwas nicht stimmte, hakte er nach. An dieser Art der Kontrolle – bezogen auf den Einzelfall, wenn ein Anlass vorliegt – stören sich auch Datenschützer nicht.
Doch seit etwa fünf Jahren beobachten Datenschützer etwas, das sie „Amerikanisierung des Datenschutzes“ nennen: das flächendeckende Sammeln von Daten ohne konkreten Nutzen. Die tiefergehende Analyse, auch Screening genannt, kommt später. Ermöglicht wird das durch die Fülle von Informationen, die inzwischen massenhaft beim Arbeitgeber auflaufen: Diensthandys liefern detaillierte Verbindungs- und Ortungsdaten, und mit intelligenter Software auf dem Firmencomputer lässt sich die Produktivität der Mitarbeiter spielend nachvollziehen. Auch Rechtsanwälte in Wirtschaftskanzleien erleben es jeden Tag: Sie müssen ihre Arbeit dem Mandanten minutengenau dokumentieren, um ihre hohen Stundenhonorare zu rechtfertigen.
„In Deutschland setzt sich gerade eine Screening-Mentalität durch“, sagt der Datenschützer Brink. „Das Screening von Mitarbeitern wird zu einer ganz normalen Dienstleistung.“ Und die kann jedes große Unternehmen in Anspruch nehmen. Besonders die, die Compliance-Untersuchungen fürchten. Dort liefern Daten – Arbeitszeiten, Nutzungen von Arbeitsmitteln – einen Verdacht, der bisher noch keinem Chef gekommen war. Bei exportorientierten Unternehmen verlangt sogar der Staat eine umfassende Überprüfung der Mitarbeiter: zum Schutz vor Terroristen und vor Geldwäsche.
Möglichkeit, sich positiv zu präsentieren
All das zeigt: Wer bei Amazon in die Lagerhallen blickt, sieht nicht in das Innere eines völlig pervertierten Arbeitgebers. Er sieht in die Zukunft. Denn die ständige Überwachung von Waren, Prozessen und Mitarbeitern hat auch mit dem technischen Fortschritt zu tun: Nicht die Menschen sagen den Maschinen, was sie zu tun haben. Hier errechnen Maschinen die optimale Route und setzen den Mitarbeiter auf die Spur. Und der zieht los. Nicht überall trifft das auf Unbehagen. Bei manchen Mitarbeitern von Amazon etwa sind die Kontrollen sogar beliebt. In Koblenz etwa monierte schon ein Mitarbeiter am Meckerbrett, der sogenannten „Wall of Change“, dass die Feedbackgespräche nicht mehr stattfinden. „Schade“ nennt er das.
Besonders junge, körperlich fitte Männer ziehen offenbar besondere Genugtuung daraus, die eigene Leistung jeden Tag aufs Neue vermessen zu lassen. Fitnessarmbänder waren gestern, der Firmenkarte mit Barcode gehört die Zukunft. Sie garantiert maximale Aufmerksamkeit, selbst vom Chef. Mitarbeiter mit befristeten Arbeitsverträgen können so positiv auffallen, das hilft bei Verhandlungen über eine Verlängerung. Wahr ist außerdem: „Die Überwachung dient natürlich auch der Abschreckung.“ Das sagt der Betriebsrat Faltin ohne Vorwurf.
Denn Amazon ist ein einziges Schlaraffenland. Paletten von teuren elektronischen Geräten, DVDs, Werkzeug, wohin das Auge blickt. Da ist die Versuchung groß, gerade weil das Personal im Saisongeschäft schnell wechselt. Eben ist der Konzern wieder dabei, für das Weihnachtsgeschäft seine Mitarbeiterzahlen in Deutschland zu verdoppeln: Knapp 10.000 neue Arbeitskräfte kommen bis Dezember hinzu. Rund vier Tage dauert die Einweisung, dann scannen sie sich selbständig durch ihren Arbeitstag. So manchen mag auch das Mitgefühl für den Arbeitgeber packen: Wie sollen Chefs Arbeitsprozesse optimieren, wenn sie nicht auf alles ein Auge haben? In der Logistikbranche „tracken“ Unternehmen mittlerweile wie selbstverständlich ihre Lieferfahrzeuge, damit sie schnell eingreifen können, wenn ein Problem entsteht.
Dass damit auch klar ist, was die Fahrer den ganzen Tag so machen, ist ein willkommener Nebeneffekt. Der verführt zu ungestümen Reaktionen. Der Chef eines Logistikunternehmens in Trier erfuhr durch diese Daten beiläufig, dass zwei Mitarbeiter eine Affäre hatten: Am Wochenende parkten sie ihre Dienstwagen immer vor dem gleichen Gebäude. Der Chef fand das lustig und sprach die beiden darauf an. Die Mitarbeiter alarmierten die Datenschutzbehörde, und die war weniger amüsiert: Sie verhängte ein Bußgeld.