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Fachkräftemangel : Wo bleiben die ITler?

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Nach Informationen des Branchenverbandes Bitkom fehlen in Deutschland 137.000 IT-Spezialisten. Bild: Ikon

Kaum irgendwo ist der Fachkräftemangel hierzulande so dramatisch wie in Deutschlands Digitalwirtschaft. Kann Indien als Vorbild dienen?

          5 Min.

          Die Zitrone hat ein aufgemaltes Gesicht, große Kulleraugen und rote Lippen. Sie sieht erschöpft aus. „Fühlst du dich von deinem IT-Job ausgepresst?“, steht neben der bedauernswerten Frucht. Mit diesem Motiv warb die Berliner Agentur „Ressourcenmangel“ bis März dieses Jahres um Angestellte für das Informationstechnikzentrum Bund, das IT-Dienstleistungen für die Behörden erbringt. Zuerst online, dann mit Plakaten, am Ende auf Straßenbahnen und Bussen. Angesprochen werden sollten wechselwillige Informatiker aus der Wirtschaft, die sich eine bessere Work-Life-Balance wünschen. Wie das ITZ Bund mitteilt, sind Kandidaten gefunden worden. Das ist ein Erfolg, denn IT-Fachkräfte sind rar, und der öffentliche Dienst konkurriert mit Technologieriesen wie Google oder Microsoft, die für sogenannte High Potentials besonders attraktiv sind.

          Nach Informationen des Branchenverbandes Bitkom fehlen in Deutschland 137.000 IT-Spezialisten. Am gefragtesten sind Softwareentwickler, gefolgt von Programmierern und Anwendungsbetreuern. Der Mangel liegt zum einen daran, dass es zu wenig junge Menschen gibt. Im Jahr 2021 nahmen laut Bitkom nur noch 72.075 Menschen in Deutschland ein Informatikstudium auf, das waren 3000 weniger als im Jahr 2020 und fast 6000 weniger als 2019. Das Studium gilt zudem als schwer. Weniger als die Hälfte der Studierenden schließt es ab, nur 31.125 beendeten es im Jahr 2021 erfolgreich. Die Regierung hat das Problem erkannt, doch ihre Versuche, der Misere mit einer Gesetzesänderung und einer „Verordnung zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung“ entgegenzuwirken, greifen einigen Fachleuten zu kurz.

          Ende März 2023 wurde ein neuer Entwurf des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes vom Kabinett beschlossen. Die meisten Änderungen gelten nur für Menschen mit einem Ausbildungsberuf. Für IT-Spezialisten, die bisher auch ohne Abschluss aufgrund ihrer Berufserfahrung nach Deutschland kommen konnten, werden die erforderliche Dauer der Berufserfahrung und die Gehaltsschwelle abgesenkt. Zudem wird auf den Nachweis von Deutschkenntnissen verzichtet. „Wir wollen, dass Fachkräfte schnell nach Deutschland kommen und durchstarten können. Bürokratische Hürden wollen wir aus dem Weg räumen“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser.

          Nicht die Bürokratie ist schuld

          „Das halte ich für PR-Aussagen, denn im IT-Bereich muss sich gar nicht viel ändern, das Visumverfahren ist seit Langem sehr gut“, sagt Barbara Rietzsch aus München, die Expats bei der Beantragung ihrer Visa berät. Auch die Meinung, dass Großbritannien, die USA oder Kanada bei Einwanderern etwa aus Indien nur deshalb beliebter seien, weil diese fließend Englisch sprächen, und man ihnen entgegenkäme, indem man auf Deutschkurse verzichte, sei eigenartig. „Dieser hoch qualifizierte Personenkreis spricht ohnehin nur Englisch im Beruf, teilweise auch privat mit Freunden und Kollegen, gerade in deutschen Städten mit vielen internationalen Beschäftigten“, sagt Rietzsch.

          Zu langen Wartezeiten komme es nicht wegen der Bürokratie, sondern weil es in den Arbeitsagenturen zu wenige Beschäftigte gebe. „Dort müssen wir vor dem Visumsantrag eine Arbeitsgenehmigung beantragen. Viele Planstellen wurden gestrichen, die verbliebenen Sachbearbeiter schuften sich zu Tode.“ Der Verband Bitkom fordert, Anerkennungsverfahren und Visaprozesse zu digitalisieren, aber genau dafür fehlen anscheinend Programme und Personal.

          Wer Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Indienbesuch im Februar von Deutschland als einem „starken Land“ schwärmen hörte, das bereit sei, indische IT-Fachkräfte aufzunehmen, bekam den Eindruck, dass er und seine Minister ein wenig rätseln, warum es hierzulande mit der Digitalisierung nicht vorwärts geht. Ein Blick nach Indien relativiert den Stolz auf die deutsche Wirtschaftskraft. Nach Angaben der Weltbank ist Indiens Wirtschaft im Jahr 2022 um 8,2 Prozent gewachsen. Der Internationale Währungsfonds prognostiziert, dass das indische Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 6,1 Prozent und im nächsten Jahr um 6,8 Prozent steigen wird. Der Verkaufswert der in Indien produzierten Software überstieg schon im Jahr 2021 mit 133 Milliarden Dollar den Verkaufswert des aus Saudi-Arabien exportierten Öls mit 113 Milliarden Dollar. Der indische IT-Verband Nasscom erwartet bis zum Jahr 2030 einen Umsatz von 500 Milliarden Dollar, wobei es dazu auch skeptische Meinungen gibt. Aber das Potential ist so oder so beachtlich.

          Zu wenig Digitalisierung an Schulen und Universitäten

          Warum aber ist Indiens IT-Branche so gut entwickelt und die deutsche so schlecht? Die Chefs von Google und Microsoft, Sundar Pichai und Satya Nadella, sind indischstämmige Amerikaner. Sie sind Vorbilder für Studierende, genau wie die Präsidentin von Nass­comm, Debjani Ghosh. Führende IT-Dienstleister wie Tata Consultancy Services und Wipro haben eigene Ausbildungszentren. Dort wird Zehntausenden Berufsanfängern drei bis neun Monate lang das Basiswissen vermittelt, noch bevor das „Training on the Job“ beginnt. Die Stadt Bangalore lag nach einer Studie von KPMG über die besten „Technology Innovation Hubs“ schon im Jahr 2021 auf dem achten Platz. Damals boomten Start-ups. Auch in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 waren 21 sogenannte Unicorns in Indien gelistet, also Unternehmen, die mehr als eine Milliarde Dollar wert sind. Natürlich profitierten sie von den vielen Onlinekäufen während der Pandemie, und ob sie langfristig profitabel sein werden, ist ungewiss. Dennoch zeigt diese Entwicklung den Stellenwert moderner Technologien in der indischen Gesellschaft, der für die Berufswahl junger Menschen eine große Rolle spielt.

          Der Fachkräftemangel in Deutschland liegt nicht nur an schwachen Geburtenjahrgängen. „Dass es auch 2023 noch kein bundesweites Pflichtfach Informatik gibt, zeugt von analogen Beharrungskräften in Schulen und Verwaltung“, sagt Achim Berg, der Präsident von Bitkom. Der Verband fordert seit Jahren mehr digitale Endgeräte, digitale Unterrichtsinhalte und eine größere Digitalkompetenz der Lehrkräfte. An den Universitäten setzt sich das Dilemma fort. „Kontinentaleuropa fällt durch den Mangel an Informatik-Absolventen von einem traditionell schwachen Standort ins Bodenlose. Wir werden uns ganz schön umschauen, wie abgehängt wir in den kommenden Jahrzehnten sein werden“, sagt Jan Peters, Professor für Intelligente Autonome Systeme im Fachbereich Informatik der Technischen Universität Darmstadt. „Im Krieg in der Ukraine sehen wir zum Beispiel, welche Bedeutung Computeralgorithmen bekommen haben. Wo sich die russischen Truppen befinden, wird mit Programmen erfasst, und von Künstlicher Intelligenz werden direkt die resultierenden Angriffe der Ukrainer vorbereitet.“

          Peters leitet neben seiner Professur den Forschungsbereich Systemische KI für lernende Roboter am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. Er glaubt, dass nicht nur Deutschland ein Problem hat, sondern Amerika in ähnlicher Form. „Früher wollten viele indische Absolventen der kalifornischen Universitäten im Silicon Valley bleiben, heute wechseln sie nach Indien. Sie nehmen zwar einen Verlust von 30 bis 50 Prozent des US-Gehalts in Kauf, haben danach aber nur einen Bruchteil der Lebenshaltungskosten. Diese Entwicklung wird die Technikindustrie in den USA schwächen.“

          Mehr Spezialisten benötigt

          Etwa die Hälfte aller Mitarbeiter der europäischen IT-Beratung Capgemini stammt aus Indien. Sie arbeiten sowohl hier als auch von ihrer Heimat aus. „In Deutschland haben wir seit Jahrzehnten die Tradition, Generalisten auszubilden. Die Technisierung schreitet jedoch so rasant voran, dass wir immer mehr Spezialisten brauchen“, sagt Executive Vice President Steffen Riedling. In Indien gebe es Letztere. Um sie zu finden, ging Capgemini einen ungewöhnlichen Weg. Im indischen Fernsehen warb das Unternehmen mit einer Reality-TV-Sendung. Bei der „Super Techies Show“ mussten die Teilnehmer Lösungen erarbeiten. Der Gewinner bekam einen Geldpreis. Auch die Medienunternehmerin Shradha Sharma widmet sich mit „Yourstory“ Start-ups und Technologiethemen. Es ist allerdings schwer zu sagen, ob solche Formate die Neugier von Schülern wecken oder ob es sie nur gibt, weil sich ohnehin schon viele Menschen in Indien für Technik interessieren.

          „Wir versuchen, auch weniger privilegierte Hochschüler in Indien zu fördern, da sind oft Juwelen versteckt“, sagt Steffen Riedling. Aber diese Einstellung ist nicht unbedingt mehrheitsfähig. Viele andere deutsche Arbeitgeber müssten ihre Haltung erst noch verändern, glaubt die Beraterin Barbara Rietzsch. „Ich habe erlebt, dass so mancher Mittelständler Scheu hatte, indische IT-Experten einzustellen. Ab und zu heißt es, dass Menschen aus einem unterentwickelten Land wie Indien nicht so teuer sein dürften wie Europäer.“

          Wie attraktiv Deutschland für Zuwanderer ist, hängt nicht allein von Gesetzen ab, auch nicht von der Beherrschung der deutschen Sprache, sondern auch von der Lebensqualität. „Es ist in Städten wie München oder Berlin schwer für Inder, eine Wohnung zu finden“, sagt Barbara Rietzsch. „Und es gibt immer noch zu viele Vorbehalte bei Vermietern, auch Gutverdienern gegenüber.“

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