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Online-Betreuung : Im digitalen Kinderland

Bild: Illustration F.A.S. Fotos dpa, Frank Röth, Dorling Kindersley, Dieter Rüchel, Kai Nedden

Die Eltern arbeiten, ihren Nachwuchs lassen sie parallel am Bildschirm bespielen – ist das eine gute Idee?

          3 Min.

          Das Urteil der Elfjährigen über die vergangenen zwei Stunden vor dem Bildschirm fällt knapp, aber wohlwollend aus: „Es hat sich gut angefühlt, auch wenn wir nicht in einem Raum waren.“ Wir – das waren sie und drei andere Kinder, Online-Spielkameraden auf Zeit, räumlich getrennt, einander fremd, bis zu diesem virtuellen Treffen. Organisiert von dem Berliner Unternehmen Voiio, haben sie aus Material, das im Müll gelandet wäre, gebastelt, neudeutsch: Upcycling. Ebenfalls sehr modern: Die Betreuerin, Anfang zwanzig, kommt aus Berlin, saß aber in Griechenland im Haus ihrer Oma am Bildschirm. Und war „echt locker und supernett“, wie die Upcycling-Novizin hinterher findet.

          Nadine Bös
          Redakteurin in der Wirtschaft, zuständig für „Beruf und Chance“.
          Uwe Marx
          Redakteur in der Wirtschaft.

          Seit Beginn der Corona-Pandemie machten immer mehr Kinder nachmittags nach der Schule oder nach dem Distanzlernen Online-Kurse, sagt Richard Göllner, Professor für Empirische Bildungsforschung an der Universität Tübingen. Göllner hat über den Online-Unterricht in Baden-Württemberg im ersten Corona-Lockdown eine umfassende Studie gemacht.

          Freizeitangebote waren zwar nicht Teil davon, dennoch kennt Göllner die Szene gut. Es gibt unzählige Angebote – von einzelnen Klavier-, Ballett- oder Turnstunden, die früher in Präsenz stattfanden und nun als Videokonferenzen in die Kinderzimmer übertragen werden, bis hin zu umfassenden Betreuungsdiensten, in denen der Nachwuchs mit einem abwechslungsreichen Stundenplan täglich über längere Zeit am Nachmittag vor dem Bildschirm beschäftigt wird.

          „In Hochphasen hatten wir 93 Betreuer parallel mit ihren Kindergruppen online“

          Ein Beispiel für Letzteres ist das virtuelle Kinderbetreuungsangebot des PME Familienservice. PME arbeitet im Auftrag von mehr als 900 deutschen Arbeitgebern und unterstützt Mitarbeiter dabei, Beruf und Familie besser zu vereinbaren. Zu den Kunden gehören etwa die Commerzbank oder die Krankenkasse AOK. Bekannt ist der Service vor allem durch die Vermittlung von Tageseltern und Betreuungsplätzen. Seitdem Kitas und Schulen aber wegen Corona immer wieder schließen oder ihre Öffnungszeiten reduzieren mussten, sei ein wichtiges Geschäftsfeld zusammengeschrumpft, berichtet Martina Mann, Leiterin der Abteilung Produktentwicklung.

          Sie hat sich deshalb im März 2020 ein Online-Kinderbetreuungsangebot ausgedacht, das Arbeitgeber für ihre Mitarbeiter buchen können. Was die Unternehmen sich das kosten lassen, verrät Mann nicht, nur so viel: „Die Mitarbeiter erhalten üblicherweise ein bestimmtes Kontingent an digitalen Betreuungsstunden, und viele beschweren sich, dass es nicht ausreicht, weil ihre Kinder so viel Spaß daran haben.“

          Da gibt es Bastelkurse, Bewegungsangebote, Trommelstunden mit Kochlöffeln, virtuelle Weltreisen, Handstand-Lernseminare und mehr. Eine Betreuungsperson kümmert sich um eine Gruppe von 6 bis 8 Kindern im Alter zwischen 6 und 12 Jahren. Für die noch Jüngeren können die Eltern stundenweise zum Beispiel Märchenlesungen buchen. „In Hochphasen hatten wir 93 Betreuer parallel mit ihren Kindergruppen online“, erzählt Mann. Rund 1250 Kinder insgesamt nutzten das Angebot im ersten Lockdown, manche nur ab und zu und für einen kurzen Zeitraum, andere täglich für zwei bis drei Stunden. Für berufstätige Eltern sei das eine große Hilfe, um mal über eine gewisse Zeit konzentriert zu arbeiten oder an Videokonferenzen teilnehmen zu können, sagt Mann.

          Freizeitangebote in Präsenz kaum verzichtbar

          Voiio aus Berlin ist vergleichbar organisiert, Kinderbetreuung ist eines von sechs Modulen, die von Angeboten für werdende Eltern bis zum Seniorenalter reichen. Die Zahl von 3500 Partnerunternehmen zeigt, wie groß die Nachfrage ist. Ziel sei es nicht, „den ganzen Tag virtuell zu betreuen“, sagt die Mitgründerin Kerstin Michels. 45 Minuten für Jüngere, eineinhalb Stunden für Ältere, das sei angemessen. Auch zwei Kurse nacheinander seien kein Problem – aber das müssten die Eltern entscheiden. Die Preise variieren, je nach Unternehmensgröße. Es gebe Rahmenverträge von einem Euro je Mitarbeiter und Monat an, erklärt Michels.

          Wie viel Digitalisierung den Kindern zuzumuten sei, hänge unter anderem vom Alter ab, findet Bildungsforscher Göllner. Wichtig ist ihm, „dass die Programme ein pädagogisches Ziel verfolgen und es nicht bloß um Beschäftigung geht. Dann ist das erst mal nicht verwerflich.“ Allerdings: Wenn auch schon der Vormittag im Digitalunterricht vor dem Computer verbracht wurde, summiert sich die Bildschirmzeit der Kinder naturgemäß immer weiter auf. „Da ist Augenmaß nötig. Eltern können ihre Kinder nicht einfach von 12 bis 18 Uhr in irgendein digitales Kinderland abschieben.“ Das Wichtigste für die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern seien nach wie vor Freizeitangebote in Präsenz.

          Andererseits warnt Göllner vor pauschalem Verteufeln von Online-Kursen. Die Regel, dass die Zeit vor dem Bildschirm für 5 bis 6 Jahre alte Kinder rund eine halbe Stunde betragen und dann mit zunehmendem Alter nur schleichend ansteigen sollte, hält er spätestens seit Beginn der Pandemie für überholt. „Es kommt auf die einzelnen Kinder an.“ Vieles relativiere sich, wenn es den Flötenunterricht, die Chorprobe oder das Karatetraining in Präsenz einfach nicht mehr gibt.

          Göllner weist allerdings auch darauf hin, dass nicht alle Kinder gleichermaßen Zugang zu den digitalen Nachmittagsangeboten hätten. „Unsere Befragungen zeigen, dass viele Schüler angeben, zu Hause nicht genügend Geräte zu haben, auch für den digitalen Schulunterricht nicht“, sagt er. Zudem haben beispielsweise zu dem PME-Angebot nur Kinder von Eltern Zugang, deren Arbeitgeber den Service gebucht haben. „Große Arbeitgeber können sich das eher leisten als kleine Unternehmen oder Mittelständler“, sagt Göllner.

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