Begriffsgeschichte : Digital war besser
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Satellit „Telstar“ Bild: dapd
Aufstieg und Fall des nordrhein-westfälischen Pilotprogramms „Schulcomputer“ aus dem Jahr 1972 sind emblematisch für ein ganzes Zeitalter. Eine Konferenz in Zürich versteht den Begriff der Digitalisierung historisch.
Kann es sein, dass die Endlosschleife der Rede von „Digitalisierung“ in Politik und Wirtschaft ein Symptom dafür ist, dass wir schon in einer digitalen Kultur leben? Nach einer geläufigen These soll sich eine solche Kultur nämlich durch einen Umbau moderner Zeitsemantiken und -erfahrungen auszeichnen, der in einen geschichtsvergessenen Absolutismus der Gegenwart mündet. Denn wenn die Zukunft immer schon heute da ist und ununterbrochen unter den Zugzwang des Reagierens setzt, erledigt sich umgekehrt auch das „Überschuss- und Überraschungspotential“ liberalen Geschichtsdenkens (Reinhart Koselleck), das sich auf eine offene Zukunft bezog.
Dieser Präsentismus würde auch erklären, dass die Geisteswissenschaften (als eminent historische Wissenschaften) in der aktuellen Aufführung des Digitalisierungsdramas keinen Platz haben. In den unzähligen Digitalisierungs-„Initiativen“, „Strategien“ oder gar „Offensiven“, die um politische Aufmerksamkeit, um eine angemessene „burn rate“ an Fördermitteln und um Lufthoheit im Bereich „Innovation“ ringen, sind sie jedenfalls praktisch nicht existent. Es sei denn als beratungsfähige Ethik oder anwendbares „Reflexionswissen“ in homöopathischer Dosis, die gewährleisten sollen, dass alles auch irgendwie „menschlich“ zugeht.
Vor diesem Hintergrund war die Konferenz „Geschichte des Digitalen Zeitalters“ am Collegium Helveticum (gemeinsam initiiert von der ETH Zürich und der Universität Wien) eine Ausnahme. Gegen die Hegemonie wirtschaftlich einträglicher Digitalisierungs-Rhetoriken setzte sie die These, dass das digitale Zeitalter mit einer Reorganisation von Kultur einhergegangen sei, deren Geschichte jedoch voller widersprüchlicher Erfahrungen, hochfliegender Erwartungen, schwieriger Lernprozesse und gewitzter Lösungen sei – und daher bereits historisierungsfähig. Im Sinne von Hans Blumenbergs Diktum, dass es keine Zeugen von Epochenschwellen gebe, hatten sich die Veranstalter ein hohes Ziel gesetzt. Denn mit ihrer Behauptung gehen elementare Fragen der Epochenbestimmung einher: nach der Periodisierung und den relevanten Faktoren und Merkmalen, nach dem Maßstab der beobachteten Phänomene und nicht zuletzt nach den wissenschaftlichen Methoden und Epistemologien der beobachtenden Epoche selbst.
Ausstieg aus der Geschichte
Für Heiterkeit und Staunen über Déjà-vus in der Geschichte der Computerisierung sorgte der Vortrag von Malte Thießen (Münster), der die konkrete Umsetzung früher Digitalisierungsmaßnahmen für Landwirtschaft, Schulen und Industriegebiete aus regionalgeschichtlicher Sicht rekonstruierte. So hatte das Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen schon 1972 eine AG „Schulcomputer“ ins Leben gerufen, weil ein „maschinennahes Grundverständnis“ nötig sei, um der digitalen Zukunft gewachsen zu sein und durch frühe Aufklärung den gesellschaftlichen Gefahren des Computers vorzubeugen. Als es ein Jahrzehnt später dann tatsächlich PCs gab, wurde die Lage jedoch vertrackt. Nachdem die Hauptschulen vorgeprescht waren, weil Digitalisierung als Motor sozialer Ungleichheit dargestellt wurde, wendete die rasch einsetzende kulturkritische Debatte um „Videotie“ und „Minderung der Denkfähigkeit“ das Blatt. Nun wollte man allenfalls noch Gymnasiasten die Disposition zutrauen, am Computer nicht zu verblöden. Worauf dann, wieder einige Jahre später, erneut die Hauptschulen dran waren, weil nun von praktischem „Medienkompetenzerwerb“ derjenigen die Rede war, die ihr Dasein später ohnehin an Bildschirmarbeitsplätzen fristen würden. Und nachdem die Sache sich stillschweigend erledigt hatte, weil PCs und World Wide Web alltäglich geworden waren, konnte der Reset-Knopf für solcherlei Erfahrungen gedrückt und wieder die Losung „Schulen ans Netz“ ausgegeben werden.
Eine umgekehrte, globalgeschichtliche Perspektive nahm Michael Homberg (Köln) ein, indem er die Geschichte der „Weltraumkommunikation“ als Vorahnung des Digitalisierungsdiskurses untersuchte. Spätestens nach dem Sputnik-Schock war die geostrategische Relevanz neuer Informationstechnologien offensichtlich. Satelliten wie „Telstar“ wurden als Boten einer neuen Ära ziviler Kommunikation inszeniert, mit den Versprechen von planetarischer Menschenrechtspolitik, einer Überwindung von Nationalismen und der Lösung humanitärer Krisen aufgeladen und von einer veränderten Entwicklungspolitik begleitet.
Dass und wie um 1970 der Anbruch eines (westlichen) digitalen Zeitalters behauptet wurde, lässt sich auch als Diskursmanöver des Antikommunismus entziffern. Den „Wettlauf der Systeme“ meinte zu gewinnen, wer glaubhaft von sich behaupten konnte, die Rennstrecke gewechselt zu haben. Wie Florian Hoof (Lüneburg) zeigte, ist diese Behauptung eines Ausstiegs aus der Geschichte eine grundlegende Redefigur des digitalen Zeitalters, deren Schwundstufe in FDP-Wahlslogans wie „STRG+ALT+ENTF“ begegnet. Wer nicht in Gefahr geraten will, solche Epochalitätsbehauptungen des Kalten Krieges einfach nachzusprechen, braucht vielleicht andere und neue Gegenbegriffe.