
Opferbeauftragter im Gespräch : „Leid hat keine Rangfolge“
- -Aktualisiert am
Helfer arbeiten in den Strassen von Dernau. Das Hochwasser hat hier zahlreiche Häuser unbewohnbar gemacht. Bild: dpa
Detlef Placzek, Opferbeauftragter des Landes Rheinland-Pfalz, spricht im Interview über Betreuung am Telefon, die Nöte der Flutopfer und Perspektiven für die Zukunft.
Herr Placzek, Sie sind seit 2018 ehrenamtlicher Opferbeauftragter des Landes Rheinland-Pfalz. Was genau ist Ihre Aufgabe?
Ich bereite die Versorgung von Opfern bei und nach Großschadensereignissen vor, sprich Terroranschlägen, Unglücken und Naturkatastrophen. Diese konzeptionelle Arbeit findet natürlich irgendwo ihre Grenzen, das war mir bewusst. Bedauerlicherweise stehen wir jetzt vor so einer Situation.
Worauf waren Sie nicht vorbereitet?
Die Anzahl der Toten und Verletzten, und dabei meine ich nur die körperlich Verletzten. Die seelischen Schäden sind ja noch gar nicht erfasst. Das Elend, das übertrifft einfach meine Vorstellungskraft. Durch das Ausmaß wird die Lage, verglichen mit anderen Katastrophen, noch länger andauern. Darauf waren wir einfach nicht vorbereitet.
Wie haben Sie die ersten Stunden der Flutkatastrophe erlebt?
Der Anruf kam in den Morgenstunden. Klassischerweise kommt der Opferbeauftragte erst zum Einsatz, wenn die Betroffenen zur Ruhe kommen, wenn sie realisieren, was passiert ist. Das ist normalerweise der Fall, wenn die Erstversorgung abgeschlossen ist, also nach einigen Stunden oder wenigen Tagen. Hier haben wir eine völlig andere Situation. Auch mehr als eine Woche später ist diese Phase noch nicht vorbei, es geht immer noch um Menschenleben. Das ist eine neue Erfahrung für mich.
Was haben Sie als Erstes getan, als Sie von der Flut erfahren haben?
Obwohl mir das Ausmaß, wie es sich heute darstellt, anfangs nicht bewusst war, war dennoch klar: Die Betroffenen brauchen schnell eine psychosoziale Betreuung. Die körperliche Versorgung geschieht automatisch, aber die Psyche wird oft vernachlässigt. Deshalb haben wir als Erstes mit dem Zentrum für Trauma- und Konfliktmanagement eine Hotline geschaltet. Dort bekommen die Opfer seit dem Morgen nach der Flut eine Akutbetreuung am Telefon. Anfangs waren es etwa 50 Anrufe pro Tag, mittlerweile sind wir bei 100. Die Gespräche dauern bis zu eineinhalb Stunden. Darüber hinaus gibt es seit Montag eine zweite Hotline. Hier werden die Opfer psychologisch beraten und bekommen einen Therapieplatz vermittelt.
Der Bedarf an Psychotherapeuten muss groß sein. Woher kommt die Hilfe?
Die Psychotherapeutenkammer hat sich direkt bei uns gemeldet und alle Mitglieder aus Rheinland-Pfalz zur Verfügung gestellt. Sie nehmen die Opfer bevorzugt auf und hängen die ein oder andere Stunde nach Feierabend dran. Der Schulpsychologische Dienst des Landes kümmert sich außerdem um Gruppen. Wir haben zum Beispiel Anfragen von Kitas mit traumatisierten Kindern. Darüber hinaus haben wir über die Hilfsplattform fluthilfe.rlp.de Angebote von anderen Psychologen bekommen.
Auf der Plattform gibt es alle möglichen Hilfsangebote.
Die Hilfsbereitschaft ist riesig, und wir wollten diese Angebote strukturieren und sammeln. Es ist eine Suche-und-Finde-Plattform: Helfer können ihre Angebote inserieren, Betroffene ihre Gesuche. Das geht von personeller Hilfe über Dinge des täglichen Bedarfs bis hin zu Geräten, Unterkünften und Transporten. Nach sieben Stunden hatten wir schon mehr als 300 Anzeigen.
Was beschäftigt die Betroffenen am meisten?
Das lässt sich pauschal nicht beantworten. Schlimm sind die vielen Vermissten. Für die Angehörigen bedeutet das Ungewissheit. Die Vermisstenzahlen werden zwar kleiner, doch mit jedem Tag sinkt auch die Chance, sie retten zu können. Andere hängen wiederum emotional stark an ihrem Haustier oder machen sich große Sorgen über ihre finanzielle Lage. Jeder hat sein eigenes Schicksal. Das macht auch die Bewältigung so schwierig. Die unterschiedlichen Probleme brauchen unterschiedliche Antworten. Und jeder ist in dieser Situation gleich wichtig. Keiner darf sagen: „Das ist jetzt aber nicht so schlimm.“
Gibt es etwas, das Sie persönlich besonders trifft?
Auch da glaube ich, dass man Leid nicht in eine Rangfolge bringen kann. Aber ich war in einer Notunterkunft vor Ort, und die Menschen dort waren überwiegend in einem höheren Alter. Da war eine Frau, die schon über 90 Jahre alt war. Das traf mich schon sehr, so etwas lässt einen einfach nicht kalt. Sie hat mich dann nach einer Schmerztablette gefragt, und ich habe sie ihr besorgt.
Wie geht Ihre Arbeit nach dieser ersten akuten Hilfe weiter?
In einer späteren Phase übernehme ich eine Lotsenfunktion. Ich kümmere mich darum, dass die Opfer ihr Schicksal bewältigen können, auch finanziell. Ich unterstütze sie bei Versicherungsleistungen, bei der Auszahlung von Soforthilfen und so weiter. Ich bin sozusagen eine zentrale Anlaufstelle, die Informationen gebündelt weitergibt.
Wie können die Opfer dieses Trauma auf lange Sicht überwinden?
Meine Aufgabe ist es, mit den Opfern zusammen eine Form des Gedenkens zu finden. Wir wollen nicht, dass sie in dieser Opferrolle stagnieren. Sie sollen aber auch nicht so tun, als wäre diese Flut nie passiert. Wir werden Gedenkveranstaltungen planen und Austauschtreffen organisieren. Das haben wir auch nach dem Amoklauf in Trier getan oder nach dem Flugtagunglück in Ramstein. Die Opfer treffen sich bis heute regelmäßig. Doch bei so einem Ausmaß wie hier ist das nicht einfach, weil es so viele Betroffene gibt. Dieser Aufgabe will ich mich stellen. Diese letzte Phase des Gedenkens ist besonders wichtig. Denn sie hat kein Ende.
Kann es je wieder so werden wie vor der Flut?
Es gibt Menschen, die stecken Schicksalsschläge schneller weg, andere belasten sie ein Leben lang. Stärkere und Schwächere können sich gegenseitig stützen. Deshalb ist so ein Austausch wie in Trier wichtig. Die Opfer spüren, dass sie nicht allein sind. Bei dieser Flut wird das Gedenken durch die regionalen Strukturen sehr ausgeprägt sein. Es sind keine Einzelpersonen, sondern ganze Dörfer betroffen. Jeder weiß von jedem, was er mitgemacht hat. Das wird für die Bewältigung hilfreich sein. Der Wiederaufbau hört ja nicht beim Schutt und der Infrastruktur auf, es geht auch um das Dorfleben, um Vereine. Die Opfer arbeiten gemeinsam an einer Zukunft. Und das gibt Kraft.