Ein Dachstuhl wie im Mittelalter
Von MICHAELA WIEGEL · 15. April 2021Zwei Jahre nach dem Brand von Notre Dame macht die Renovierung schnelle Fortschritte. Schon 2024 soll alles wiederhergestellt sein.
Wann immer Agnès Poirier aus ihrem Fenster auf die Baustelle der Kathedrale Notre Dame blickt, wächst ihre Zuversicht. „Es geht zu wie in einem Bienenstock“, sagt die Autorin („Notre-Dame – Die Seele Frankreichs“). Täglich beobachtet die 45 Jahre alte Pariserin das emsige Treiben am brandversehrten Bauwerk, verfolgt die Handwerker, die schon im Morgengrauen in Schutzanzügen und Gummistiefeln im Inneren des Gotteshauses verschwinden, die Bauarbeiter, die Gerüste aufbauen, und den Kran, der auch nach Einbruch der Dunkelheit über allem schwirrt. Zwei Jahre nach dem dramatischen Brand, als Poirier durch ihr Küchenfenster hellgelbe Rauchschwaden gen Himmel steigen sah und sofort die Treppe hinunterstürzte, hält die Kathedrale sie in ihrem Bann.
Dem Architekten Viollet-le-Duc war es bei dem 1858 begonnen und 1860 beendeten Bau des Spitzturms gelungen, sein Werk mit der Arbeit der mittelalterlichen Baumeister zu verschmelzen. Agnès Poirier ist froh, dass sich die verrücktesten Ideen für den Wiederaufbau verflüchtigt haben. Präsident Macron hatte sie heraufbeschworen, als er noch in der Brandnacht versprach, binnen fünf Jahren Notre-Dame „schöner als zuvor“ wiederaufzubauen. Ein schwedischer Architekt wollte ein Schwimmbad auf dem Dach der Kathedrale errichten, ein französischer ein riesiges Treibhaus, wieder ein anderer plädierte für eine bewaldete Dachterrasse für vom Aussterben bedrohte Tierarten.
„Nach dem emotionalen Schock über den Brand war die Hysterie der Entwürfe eine Art Katharsis“, meint die Schriftstellerin. Sie hat in ihrem Buch viele neue Details aus der Geschichte Notre-Dames zutage gefördert und beschreibt lebendig, wie knapp Frankreich am 15. April 2019 an der Katastrophe, dem Einsturz der Kathedrale, vorbeischlitterte. Das Feuer hatte sich rasend schnell im Nordturm ausgebreitet, und der Präsident segnete im letzten Moment einen lebensgefährlichen Einsatz der zur Armee zugehörigen Pariser Feuerwehrleute ab, die „im Nahkampf“ die Flammen besiegten. Die Polizei hatte Drohnen in den Himmel geschickt, deren Bilder direkt in der Einsatzzentrale auf den Bildschirmen gezeigt wurden. „Die schaurigen Aufnahmen“, so schreibt Poirier, „erschüttern alle bis ins Mark. Domdekan Chauvet sinkt bewusstlos in die Arme der Bürgermeisterin.“
Nicht nur die Innovationssucht hat sich nach zwei Jahren gelegt, auch die Wut vieler ihrer Landsleute über die Spendenfreude der reichsten Franzosen für „tote Steine“ ist verraucht. „Das war eine typisch französische Reaktion, erst wütend werden und dann nachdenken“, lacht Poirier. Die Vorschusszahlungen der Milliardäre François Pinault, Bernard Arnault, der Bettencourt-Stiftung, aber auch der unzähligen Kleinspender aus aller Welt seien ein weiterer Grund, warum es auf der Baustelle Notre Dame zügig vorangehe. 340.000 Menschen aus 150 Ländern haben insgesamt 833 Millionen Euro gespendet.
Viel sei schon erreicht, meint der General. Die Sicherungsphase neigt sich dem Ende zu, nach dem Sommer beginnt der eigentliche Wiederaufbau. Die durch die Glut teils geschmolzenen Überreste der Baugerüste wurden in mühevoller Arbeit zerkleinert und abgetragen, Trümmer und Schutt aus dem Inneren der Kathedrale entfernt, jede einzelne der wie durch ein Wunder nur verschmutzten 7374 Orgelpfeifen abgebaut und zur Reinigung an einen geheim gehaltenen Ort gebracht. In zwei nur durch den Rauch verunstalteten Kapellen wurden als Vorzeigeexperiment die Steine in ihren ursprünglichen Farben restauriert und die Deckenmalereien erneuert. Im Hauptschiff der Kathedrale wurden 27 Meter hohe Baugerüste aufgebaut. Sechs der am meisten beschädigten Deckengewölbebögen müssen wie durch ein Exoskelett durch hölzerne Traggestelle abgestützt werden. Die 28 Strebebögen am Chor und am Langhaus stützen bereits Holzbögen auf der Innenseite. Eine „Regenschirm“ genannte Plane schützt das Gotteshaus vor Regen und Schnee.
„Wie die Sicherungsphase, die jetzt zu Ende geht, verlangt die Restaurierungsphase viel handwerkliches Fachwissen“, sagt Georgelin. „Wir erhalten Angebote aus der ganzen Welt, von Handwerkern und Kunstschaffenden, die zur Renaissance der Kathedrale beitragen wollen.“ Doch seien sie an strikte europäische Ausschreibungsregeln gebunden. „Aber deutsche Fachleute können sich bewerben“, sagt er.
Eine Entscheidung über die Restaurierung der vom Brand zerstörten Obergadenfenster sei noch nicht gefallen. Die Koordinatorin für die deutsche Hilfe beim Wiederaufbau von Notre-Dame, Barbara Schock-Werner, hatte vorgeschlagen, dass deutsche Fachleute die Franzosen bei den Arbeiten an den Obergadenfenstern unterstützen, die sich über den Seitenschiffen der Kathedrale befinden. Die ehemalige Kölner Dombaumeisterin pries das Fachwissen der Glasspezialisten der Kölner Dombauhütte an.
Doch der General ist vorsichtig, er schweigt lieber, denn er weiß, wie schnell es Streit gibt, wenn es um Notre-Dame als französisches Nationalsymbol geht. Deshalb hält er die Frage nach der deutschen Hilfe für die Fensterrestaurierung für „verfrüht“. Er beherzigt damit einen Rat, den er dem Chefarchitekten von Notre-Dame gab: „Ich habe es ihm schon oft gesagt: Er soll einfach mal die Klappe halten. Nur dann sind wir in der Lage, gelassen weiterzuarbeiten.“
Quelle: F.A.Z.
Veröffentlicht: 15.04.2021 09:07 Uhr
