Erdbeben in der Türkei : „Wir hören Stimmen“
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Recep Tayyip Erdogan: Der Präsident sagt in Kahramanmaras Hilfe zu. Bild: AFP
Während den Rettern die Zeit davonläuft, beginnt der Kampf um die Deutung des Umgangs mit der Katastrophe. An vielen Orten ist noch keine Hilfe angekommen. Die türkische Regierung reagiert dünnhäutig und schränkt Twitter ein.
Die Rettung jedes einzelnen Menschen wird gefeiert. Auch am dritten Tag nach der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und in Syrien retteten Bergungsmannschaften Überlebende aus den Trümmern. Etwa die fünf Jahre alte Serap Ela, die mit nur einem Schlafanzug bekleidet im türkischen Hatay von Helfern aus den Trümmern gezogen wurde.
Solche Geschichten stehen im Mittelpunkt der regierungsnahen Fernsehkanäle. Sie sollen illustrieren, dass der Staat schnell reagiert und sich um seine Bürger kümmert. Solche glücklichen Geschichten werden aber seltener. Sichtbarer werden hingegen die Fehler und Schwächen im Krisenmanagement des Staats, die Präsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch bei seinem Besuch in der vom Beben heimgesuchten Provinzhauptstadt Kahramanmaras auch eingeräumt hat. Allerdings fügte er hinzu, dass nun alles „normal“ ablaufe. Am Mittwoch stieg die Zahl der Todesopfer in der Türkei und Syrien auf mehr als 11.000.
In der Türkei hat ein Wettbewerb eingesetzt über die Deutungshoheit zum Umgang mit den Folgen des verheerenden Bebens. So zählte Vizepräsident Fuat Oktay, Erdogans Stellvertreter, auf, dass an Ort und Stelle 16.150 Rettungsteams mit 60.000 Helfern im Einsatz seien, und das in allen betroffenen Provinzen. Dem hält der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, entgegen, dass es Erdogan in 20 Jahren Herrschaft versäumt habe, die Türkei auf eine solche Katastrophe vorzubereiten. „Wenn jemand hauptverantwortlich für diesen Verlauf ist, dann ist es Erdogan“, sagte Kilicdaroglu. Er kritisierte, dass in vielen Orten auch am dritten Tag keine staatliche Hilfe angekommen sei.
Bei vielen ist noch keine Hilfe angekommen
Was die regierungsnahen Sender ausblenden, ist auf regierungskritischen Kanälen wie Fox und Halk zu sehen: Abertausende Hilferufe von Verschütteten, die über Handys ihren Namen und ihre Adresse angeben, aber nicht gerettet werden können, weil es keine mit Geräten ausgestatteten Bergungsteams gibt oder aber keine Kranführer, die freiwillig helfen wollen, jedoch weiter im Flughafen von Istanbul festsitzen, obwohl sie dringend benötigt werden. Auf Twitter wird millionenfach der Hashtag #SESVAR geteilt („Wir hören Stimmen“).
Menschen teilen dabei Standorte mit und flehen um Hilfe. Ohne das nötige technische Gerät hilft das nichts. Als katastrophal wird die Lage insbesondere in den ländlichen Gebieten beschrieben, wohin offenbar weiterhin keine Hilfe gelangt.
Die Hilfsbereitschaft ist landesweit überwältigend. Zwar versucht die staatliche Katastrophenschutzbehörde AFAD, alle Hilfsleistungen über ihre staatlichen Kanäle zu organisieren, was zu absurden Entwicklungen führt. So hat in Mugla der vom Innenminister ernannte Gouverneur den Hilfskonvoi der von der CHP regierten Stadtverwaltung mit seinem Logo versehen, damit der Eindruck entsteht, die Hilfe komme von ihm. In der kurdischen Provinz Hakkari hat der dortige Gouverneur Hilfslieferungen der prokurdischen HDP mit dem Argument untersagt, dass allein AFAD dazu befugt sei.
Rockmusiker startet Hilfskampagne
Trotz solcher Einschränkungen setzen von der CHP regierte Städte ihre Hilfen fort. Der Oberbürgermeister von Ankara, Mansur Yavas, verbreitete auf seinem Twitter-Account, wie eine Bautruppe aus der Hauptstadt die zerstörte Startbahn des Flughafens von Hatay instand setzt. Auf Twitter listet die Verwaltung des Stadtteils Cankaya in Ankara auf, wie viele mit Hilfsgütern beladene Sattelschlepper und Lastwagen sie auf den Weg gebracht hat. Bereits am Mittwoch waren es über 70, sie kamen mit dem Logo von Cankaya in sieben Städten an. Unterdessen löschte die Istanbuler Feuerwehr das Großfeuer im Hafen von Iskenderun. Die Stadt Istanbul lieferte Geräte nach Hatay, um mobile Telekommunikation zu ermöglichen.
Eine der populärsten Hilfskampagnen hat der türkische Rockmusiker Haluk Levent gestartet, der aus Adana stammt und dem viele Menschen großes Vertrauen schenken. Er ist noch am Montag in die schwer getroffene Stadt Hatay gefahren. Seine Initiative Ahbap hat viele Millionen Euro gesammelt. Einer ihrer Schwerpunkte war am Mittwoch das Beschaffen von Generatoren.
Von den schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien sind schätzungsweise bis zu 23 Millionen Menschen betroffen. An den Hilfsmaßnahmen beteiligen sich auch Organisationen aus Deutschland. Einige Adressen für Geldspenden finden Sie hier:
Hier können Sie spendenAuf kritische Berichterstattung reagiert die türkische Regierung zunehmend dünnhäutig. Am Mittwoch wurde in Istanbul wegen seiner kritischen Kommentare Özgün Emrek Koc festgenommen. Im Laufe des Nachmittags schränkte die türkische Regierung Twitter so weit ein, dass er für die meisten Türken kaum mehr zu benutzen war. Da war auf Twitter gerade noch eine Karikatur verbreitet worden, in der zwischen Betonplatten eingeklemmte Menschen um Hilfe und nach dem Staat rufen. Der daneben stehende Kommunikationsdirektor Erdogans erwidert darauf lediglich. „Schweige! Das ist Desinformation, wir sind hier.“
Mustafa Yeneroglu, Abgeordneter der oppositionellen Deva-Partei im Parlament, konnte noch absetzen: „Kommunikationsfreiheit ist immer wichtig, aber die Möglichkeit, soziale Medien während dieser Zeit zu nutzen, ist von entscheidender Bedeutung. Der Eingriff in die sozialen Medien muss sofort gestoppt werden!“ Davor hatte er geschrieben: „Ein Staatsverständnis, das nicht auf dem Menschen beruht, liegt unter Trümmern.“