Gespräch über Gewalt : „Die Mutter inszeniert ihr inneres Drama“
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Eltern beschützen ihre Kinder: Das ist die Regel. Aber wie erkennt man, wenn das Gegenteil der Fall ist? Bild: dpa
Ulrich Sachsse ist Psychiater und Psychotherapeut. In seinem Buch schreibt er über Mütter, die ihre Kinder vergiften – und sie dann „retten“. Ein Gespräch.
Herr Sachsse, Sie sind Psychotherapeut und haben eine Patientin mit Münchhausen-by-proxy-Syndrom erlebt: eine Mutter, die ihr eigenes Kind mehrfach so vergiftete, dass es in die Notaufnahme kam. Ein ähnlicher Fall wurde gerade in Hamburg verhandelt, auch diese Frau wurde lange von niemandem verdächtigt. Die Mutter hatte ihrem Sohn immer wieder verunreinigte Spritzen verabreicht, die Ärzte behandelten ihn schon wegen Leukämie, als sie endlich merkten, was wirklich passiert war. Haben Ärzte das Syndrom zu wenig auf dem Schirm?
Dieses Krankheitsbild ist tatsächlich kaum auf dem Schirm, weder bei Kinderärzten noch bei Psychotherapeuten oder Jugendämtern. Es gibt in der wissenschaftlichen Literatur fast nur einzelne anekdotische Berichte. Das Feld wurde bisher entweder unterschätzt oder ist wirklich so extrem selten, dass man es gar nicht generalisierend erforschen kann. Schätzungen aus Großbritannien gehen davon aus, dass jeder Kinderarzt einmal in seinem Berufsleben mit einem solchen Fall konfrontiert ist.
Wie sollte die Gesellschaft und wie sollten Ärzte mit diesem unerforschten Syndrom umgehen?
Die spontane Reaktion Außenstehender ist meistens Entsetzen und Empörung, verbunden mit moralischer Verurteilung. Das ist verständlich, aber nicht hilfreich, um angemessen zu intervenieren. Eine zunehmende Auseinandersetzung mit dem Störungsbild kann aber dazu führen, dass es entdämonisiert wird. Beispielsweise war selbstverletzendes Verhalten, das „Ritzen“, vor 25 Jahren ein besonders dämonisiertes Störungsbild. Inzwischen ist in jeder Beratungsstelle angekommen, dass es dieses Verhalten in der Jugend geben kann. Das würde ich mir hier auch wünschen: eine nüchterne Auseinandersetzung mit einem sehr schockierenden Störungsbild.
Die Mutter, die gerade in Hamburg zu einer knapp dreijährigen Haftstrafe verurteilt wurde, hatte ihren kleinen Sohn mit verunreinigten Spritzen schwerkrank gemacht. Erst spät wurde die Frau entdeckt und von dem Kind getrennt. Haben Sie bei Ihrer Patientin, die Sie in Ihrem Buch „Proxy – dunkle Seite der Mütterlichkeit“ anonymisiert „Frau Proxy“ nennen, auch eingreifen müssen?
Frau Proxy habe ich erst kennengelernt, als sie ihre Therapie schon lange begonnen hatte. Sie hatte sich zuvor schon einer anderen Therapeutin geöffnet. Die Frau Proxy in dem Buch hat ja auch damit zu kämpfen, dass sie nicht verurteilt wurde. Man kann ihr Selbstzeugnis als eine Art Sühne verstehen. Bei ähnlichen Urteilen gegen Mütter mit Münchhausen by proxy waren die Kinder auch meist zwischen zwei und fünf Jahre alt. Frau Proxy schildert, dass sie in einem Flow war, in einer Art verändertem Bewusstseinszustand, dennoch waren die Taten geplant, vorbereitet, nüchtern kalkulierend durchgeführt. Nach Beginn ihrer ersten Psychotherapie hatte Frau Proxy sich rasch verändert und das schädigende Verhalten, das bisher das älteste Kind getroffen hatte, gegen den eigenen Körper gerichtet.
Welche Möglichkeiten hätten Psychotherapeuten, die Kinder einer solchen Patientin zu schützen?
In einer Therapie zu erfahren, dass Eltern ihre Kinder schädigen – das ist leider alltäglich. Das können Mütter sein, die völlig überzogen ausrasten, oder Väter, die während Alkoholexzessen gewalttätig werden. Es ist inzwischen juristisch möglich, die Schweigepflicht zu brechen, wenn fortgesetzt eine Kindeswohlgefährdung wahrscheinlich ist. Ich würde es zudem zur Behandlungsbedingung machen, dass ein bestimmtes Verhalten den Kindern gegenüber nicht mehr vorkommen darf. Bei sehr vielen Frauen ist es übrigens die Hauptmotivation, sich in Behandlung zu begeben, dass sie sagen: Ich möchte nicht so eine Mutter sein, wie ich es im vergangenen Jahr gewesen bin. Auf der Basis kann man arbeiten.
„Frau Proxy“ ist offenbar in vielen Zusammenhängen eine liebevolle Mutter für ihre drei Töchter gewesen. Gibt es überhaupt eine Antwort auf die Frage, warum eine Mutter dennoch ein Kind so schädigt, dass sie es im Anschluss immer wieder Ärzten vorstellen muss?
Frau Proxy wurde als Kind und Jugendliche jahrelang von ihrem Stiefvater vergewaltigt. Diese schwere Traumatisierung hat dazu geführt, dass sie immer wieder von Flashbacks oder Intrusionen heimgesucht wurde, plötzlich ausgelösten Erinnerungen, die sie überfielen. Wenn die andrängten, kam es dazu, dass sie das „innere Drama“, das sie erlebte, mit ihrem eigenen Kind inszenierte. Früher war sie als Kind schwer geschädigt worden, jetzt schädigte sie ihr Kind. Aber sie war gleichzeitig das Kind in diesem inneren Drama. Sie rettete das Kind, sie holte das Kind aus der Not heraus, sie versorgte es gut, sie tat genau das, was sie ersehnt hatte in ihrer Kindheit und was sie nicht bekommen hat. Das versetzte sie dann in einen Zustand von Funktionsfähigkeit, von „Flow“: einen leicht manischen Zustand, bei dem man unglaublich wach, konzentriert und kompetent ist.
Sie lässt also ihre Probleme hinter sich?
Ja, in diesem Zustand sind keine Flashbacks da, keine Kindheit, keine Problematik, kein Zwang, neue Kleidung zu kaufen – all das quälte diese Patientin. Sie wurde aus ihren katastrophalen Symptomen, den Flashbacks, herausgeholt. Das ist eine Erklärung, keine moralische oder juristische Entschuldigung. Für die Patientin war es aber wichtig, sich überhaupt einmal zu verstehen.
Frau Proxy wurde nie entdeckt?
Nein, sie offenbarte sich nur in der Psychotherapie und in dem Buch, für das ich ihre Geschichte protokolliert habe. Da erzählt sie alles ganz ausführlich aus ihrer Sicht. Kurz nach Beginn der Psychotherapie hörte sie wie gesagt auf, ihre Kinder zu gefährden.