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Stuttgart : Immer neue Malls, immer weniger Leben

Noch eins: Kundschaft in dem am Donnerstag eröffneten Einkaufszentrum „Milaneo“ in Stuttgart Bild: dpa

In Stuttgart hat das zweite Einkaufszentrum innerhalb von zwei Wochen eröffnet. Die Einzelhändler zittern, das urbane Leben stirbt aus. Dabei warnen Soziologen schon seit Jahren vor großen Malls.

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          Vor dem neuen Einkaufzentrum Gerber werben Studentinnen für die Eröffnung des neuen Einkaufzentrums Milaneo. Die Röcke und Hemden eines polnischen Mode-Labels sollen die Kunden aus einem brandneuen Einkaufszentrum in eine zweite nigelnagelneue Shopping-Mall locken. „Unsere Modekette eröffnet den ersten Shop in Deutschland“, sagt die Studentin und verteilt großformatige Prospekte. Das Gerber, im Süden Stuttgarts gelegen, ist vor zwei Wochen eröffnet worden. In das Milaneo strömten am Donnerstagmorgen von sechs Uhr an die ersten Kaufwütigen. 120.000 wurde erwartet.

          Rüdiger Soldt
          Politischer Korrespondent in Baden-Württemberg.

          Mit den beiden Einkaufszentren werden in der baden-württembergischen Landeshauptstadt innerhalb weniger Wochen fast 90.000 Quadratmeter neue Verkaufsfläche geschaffen. Das ist ein Zuwachs von 25 Prozent. Damit sich die neuen Einkaufszentren rentieren, müssen Waren im Wert von 350 Millionen Euro zusätzlich verkauft werden. Der Stuttgarter Handel setzt nach einer Studie des Instituts Prognos im Jahr etwa 110 Millionen Euro um, nach der Studie könnte er durch die neuen Einkaufsmöglichkeiten 50 Prozent an Umsatz einbüßen.

          Das Gerber liegt südlich des Rotebühlplatzes und soll ein Stadtviertel beleben, das in der Vergangenheit mehr durch Billigläden und die Drogenszene aufgefallen ist. Das Milaneo liegt auf dem sogenannten A1-Gelände, am Rande der gewaltigen Baugruben des Projekts „Stuttgart 21“. Für viele Stuttgarter geben die einfallslosen Büroquader einen unguten Vorgeschmack auf die Architektur des Öko-Stadtviertels „Rosenstein“, das schon in ein paar Jahren auf der dann frei geräumten Gleisfläche entstehen soll.

          Sieht man im Gerber von einer Joghurt-Eismanufaktur aus Athen und im Milaneo von der Billig-Klamotten-Kette Primark ab, bieten die Center das, was man auch andernorts kaufen kann. 2016 kommt in der Innenstadt, in unmittelbarer Nähe der Stuttgarter Markthalle, mit einer Fläche von 38.000 Quadratmetern für Büros und Geschäfte noch das „Dorotheenquartier“ hinzu. Mit ihm leistet das Kaufhaus Breuninger einen Beitrag zur städtebaulichen Erneuerung. Trostlose Betonschneisen, an denen man auf den Gedanken kommen könnte, Stuttgart sei nur eine Ansammlung von Tiefgarageneinfahrten, finden sich in der Stadt in Hülle und Fülle.

          Das einzige Café am Platz musste schließen

          Am Marktplatz musste kürzlich ein traditionsreiches Spielwarengeschäft einem Hersteller von Espresso-Kapseln weichen. Das einzige Café, das dem Platz Urbanität gab, musste ebenfalls schließen. Die neuen Einkaufszentren beunruhigen deshalb die Stuttgarter Einzelhändler und fast alle Oberbürgermeister in den Städten der Region: In Böblingen ist mit den „Mercaden“ vor wenigen Wochen eine neue Shopping-Mall eröffnet worden, in Sindelfingen soll das Breuningerland demnächst erweitert werden; in Reutlingen wird für das alte Hauptpost-Areal ein Einkaufscentrum geplant.

          Wie sich das Konsumverhalten damit verändert, ist hinreichend erforscht: Zusätzliche Kaufkraft entsteht dadurch, dass vorhandene irgendwo abgesaugt wird. Der Esslinger Oberbürgermeister Jürgen Ziegert (SPD) sprach kürzlich von einer „Kannibalisierung der Einzelhandelsstandorte“. Seine Kollegen in Böblingen oder Sindelfingen blicken ähnlich skeptisch auf die Bau- und Konsumwut in der Landeshauptstadt. Beim Bau der Hamburger Hafencity waren die Städteplaner froh, ein Einkaufszentrum des ECE-Konzerns verhindert zu haben, in Stuttgart wollte man trotz warnender Gutachten unbedingt bauen.

          Tilman Harlander ist Architekt und Stadtsoziologe. Im städtischen Bauausschuss hat er die Planungen der Stadt viele Jahre kritisch begleitet. „Im Grunde sind die introvertierten Malls heute nicht mehr zeitgemäß. Es bringt einer Stadt keine Urbanität, wenn die Leute mit dem Auto in die Tiefgarage der Shoppingcenter fahren, beim Einkaufen möglichst lange verweilen und dann wieder nach Hause fahren“, sagt Harlander. Wer städtebaulich etwas erreichen wolle, wer belebte Plätze und eine Verbindung von Wohnen, Arbeiten und Konsum wolle, der müsse mit kleinteiligen Parzellen und mit einer Vielzahl von Bauträgern planen.

          Kritik am klassischen Investoren-Städtebau

          Stuttgart habe zu Beginn der neunziger Jahre aber die gesamte städtebauliche Entwicklung des Geländes am Bahnhof an die Immobiliengesellschaft der Bahn übertragen. „Die Stadtspitze in Stuttgart hat in den neunziger Jahren nicht kapiert, dass gerade die ersten Gebäude auf dem Stuttgart-21-Gelände urban, lebendig und von hoher Qualität sein müssen. Stattdessen hat man klassischen Investoren-Städtebau gemacht.“ Damals waren die Kommunalpolitiker schon stolz darauf, überhaupt internationale Investoren in die Talkessel-Stadt zu holen.

          Die Kunden des Milaneo werden sich dort nur kurz aufhalten und dann zurück nach Böblingen oder Sindelfingen fahren. Innenstädte profitieren von neuen Einkaufszentren nur dann, wenn sie in der Innenstadt liegen. Der Stuttgarter Stadtplaner Franz Pesch spricht mit Blick auf die Entwicklung des Einzelhandels von einer „hochsensiblen Situation“. Einkaufszentren, Online-Handel, Malls im Umland sowie die großen Möbelhäuser in der Region veränderten die Handelsstruktur. „Irgendwann haben wir leere Schaufenster in der Innenstadt, dann müssen wir uns Sorgen um den öffentlichen Raum machen.“

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