Scharfrichter Johann Reichhart : Der Vollstrecker
- -Aktualisiert am
Vollstrecker: Johann Reichhart im Alter von 75 Jahren Bild: ddp images / United Archives
Johann Reichhart, der auch die Geschwister Scholl guillotinierte, war der meistbeschäftigte Henker der Geschichte. Von seinem Onkel hatte er 1924 das Hinrichten gelernt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lehrte er es amerikanischen Besatzern.
Im Sommer 1916 war Verdun eine apokalyptische Landschaft. Überall ins Erdreich gerissene Trichter und Schwaden der letzten Gasangriffe. In dieser Hölle wurde nach dem Einschlag einer schweren Granate ein junger Mann verschüttet. Zwei Kameraden gruben ihn panisch mit bloßen Händen aus. Johann Reichhart lebte. Er war Metzgergeselle und hatte sich auf seiner Wanderschaft als Kriegsfreiwilliger in Hamburg gemeldet. Er und seine Lebensretter sollten sich wiedersehen, 28 Jahre später, im Oktober 1944, im Zuchthaus Stadelheim. Er sollte die beiden Männer enthaupten, die jahrelang Mädchen missbraucht hatten. Reichhart war entsetzt, sprach mit den Beamten, ein Ersatzmann sollte her. Sie beruhigten ihn: Die beiden Delinquenten wünschten sich ihn sogar als Henker.
Es klingt wie die groteske Parabel eines sonderbaren Lebens. Eine graue Akte kündet im Bayerischen Hauptstaatsarchiv von dieser Biographie. Darin sind seine fast kalligraphisch geschriebene Bewerbung, Abrechnungen, Entnazifizierungs-Schreiben, Beurteilungen und Korrespondenzen enthalten. Reichhart war nicht irgendein Henker, er war tatsächlich der erfolgreichste Henker der Weltgeschichte, mit mehr als 3150 Hinrichtungen. Johann Reichhart übernahm von seinem Onkel, dem einzig beamteten Scharfrichter in Bayern, Franz Xaver Reichhart, der schon den Volkshelden Matthias Kneißl köpfte, 1924 das Handwerk des Hinrichtens.
Johann Reichharts Hochkonjunktur kam in der Nazi-Zeit. Für die amerikanische Besatzungsmacht richtete er danach noch 156 Kriegsverbrecher hin, unter ihnen viele NSDAP-Chargen und KZ-Personal. Drei Jahre zuvor hatte Reichhart noch Sophie und Hans Scholl, Professor Huber und weitere Mitglieder der Weißen Rose hingerichtet. Für die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg plante er den Galgen. Dem amerikanischen Henker Hazel Woods zeigte er, wie der perfekte Knoten aussieht. Woods war wissbegierig. Er exportierte Reichharts Wissen dann in die Vereinigten Staaten.
Reisender der Hinrichtung
Im Juli 1917 wurde Reichhart als Kriegsversehrter aus der Armee entlassen. Alles war im Umbruch. Was will man mit so einem Leben? Im September 1918 wurde Reichhart Mitglied des Spartakus-Bundes, dann Mitglied der Roten Armee – sie sollte die neue Münchner Räterepublik verteidigen. Er wurde Koch im Schwabinger Stützpunkt Max-Gymnasium. Doch das sozialistische Experiment scheiterte. Die Weiße Garde marschierte im Mai 1919 ein. Bürgerkrieg, dann war wieder Ruhe in Bayern. Fünf Jahre später war Reichhart Pächter der Bahnhofsgaststätte in Neubiberg, arbeitete nebenbei als Tanzlehrer und handelte mit Hunden. Und er war – so die offizielle Bezeichnung – Nachrichter, also Henker. Ein paar Tage vor einem Hinrichtungstermin bekam er von einem Boten den Bescheid, wo er sich wann einzufinden habe.
Reichhart kam stets am Vortag der Hinrichtung an und schlief in einer der Gefängniszellen. Durch den Spion nahm er am Abend vorher kurz den Delinquenten in Augenschein. Zwei bis vier Gehilfen bauten die Guillotine auf. Frühmorgens testete er die Funktionstüchtigkeit der Hinrichtungsapparatur. Zur Vollstreckung waren immer zwei oder drei Assistenten des Henkers (der eine war im Hauptberuf Fuhrunternehmer, der andere Friseurmeister mit seinem Salon gegenüber von Karl Valentins Kabarett), zwei Gefängnisbeamte, ein Staatsanwalt, der Gefängnisarzt, ein Geistlicher sowie ein protokollführender Justizbeamter anwesend. Schon vor der Hinrichtung läutete die Sterbeglocke, der Pfarrer sprach ein Gebet.
Reichhart richtete in Gehrock und Zylinder hin. Reichhart wurde zum Reisenden der Hinrichtung. Zu den Justizbeamten hatte er ein fast freundschaftliches Verhältnis. Sie gaben ihm die Hintergrundinformationen zu Tat und Urteil. Sein charmanter Umgangston, seine Zuvorkommenheit und seine präzise Arbeit wurden geschätzt. Aber nicht jedes Todesurteil wurde tatsächlich vollstreckt. Mehr als ein Drittel der zum Tode Verurteilten wurden begnadigt, ihre Strafe in lebenslange Haft umgewandelt. Fast jeder kannte seine Tätigkeit. Seine Geschäfte gingen allerdings immer schlechter. Ende der Zwanziger verdiente er 450 Reichsmark im Jahr. Er schrieb Bittbriefe an seine Auftraggeber im Justizministerium. Sie genehmigten dem geschätzten freien Mitarbeiter einmalige Sonderzahlungen. Doch die Einkünfte reichten nicht aus, um die sechsköpfige Familie zu ernähren.