Samtiger Modetrend : Ein Gefühl von Sicherheit
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Wie damals zum Samt-Wahnsinn in den Siebzigern: Akris. Bild: Helmut Fricke
Gestern Muttchen-Stoff, heute Trend-Material: In der Mode gehört Samt jetzt zu den Gewinnern. Nicht nur Frauen machen sich darin beliebt.
Bis zum Einbruch dieses Winters gab es genug Schlechtes über Samt zu sagen. Zum Beispiel, dass Samt in den vergangenen Jahren vor allem sein Dasein als plüschiges, mitunter schon abgewetztes Sitzkissen im Kino gefristet hat. Oder als beflockte Lockenwickler, die heute allenfalls noch bei älteren Damen Verwendung finden. Modisch war Samt lange Zeit etwa so weit vorne wie Queen Elizabeth. Böse Zungen behaupten sogar, so alt, wie Samt einen mache, könne man gar nicht werden. Und erfahrene Einkäufer wenden sich mit Grausen ab angesichts der Misserfolge, die ihnen dieses Material in der Vergangenheit schon beschert hat.
Aber dann kam dieser feuchte bis eisige Winter, und es sieht so aus, als könne zumindest Samt ihm etwas abgewinnen: Ein Blick auf die roten Teppiche wie in die Fußgängerzonen, und die plüschige Seite von Samt wirkt plötzlich kuschelig, seine betuliche Art geradezu cool. Das liegt vor allem daran, dass sich einige Designer für diese Saison früh genug an das No-Go herangewagt haben. Sie hatten ein Herz für Samt und sollten recht behalten. Bei Valentino: lässige Maxikleider aus Samt in verschiedenen Edelsteintönen. Bei Stella McCartney: übergroße Daunenwesten aus Pannesamt. Bei Dries van Noten: weite, mit Leo-Muster versehene Hosen aus Samt. Bei Akris: Jogginganzüge und Pullover, die an den Samt-Wahnsinn der Siebziger erinnern, als das weiche Material zum Inventar einer jeden halbwegs stilvollen Garderobe gehörte.
Und natürlich Samt bei: Zara, Mango, Asos. Samt ist nicht mehr nur etwas für neunzig Jahre alte Königinnen von Großbritannien, sondern auch für die Jugend von heute. Sie trägt jetzt Stiefeletten aus Samt, bauchfreie Tops, Blousons, Kleider. Sieht alles andere als bieder aus. Dass der Stoff, gestern Tradition, heute Trend, einem einst die Nackenhaare hochstellte – vergessen.
Jahrhundertealte Tradition
An die lange Geschichte von Samt darf aber schon erinnert werden: Seine Ursprünge reichen bis ins Mittelalter zurück. In Italien wurde bereits im frühen 14. Jahrhundert Samt produziert. Rund 150.00 Samtweber waren damals in Mailand beschäftigt. Im späten 16. Jahrhundert führten flämische Weber die Samtweberei in England ein, wo man bedruckten Baumwollsamt und Cordsamt herstellte. Im Laufe des 17. Jahrhunderts gesellte sich Frankreich zur Samt-Herstellung hinzu, mit großflächig gemustertem Samt. Im 18. Jahrhundert fasste die Samt-Industrie schließlich auch in den Niederlanden und in Deutschland Fuß. So weit der Aufstieg des Samts.
Während man ihn früher vorwiegend aus Seide hergestellt hat, wird er heute oft aus Baumwolle oder synthetischen Fasern gewonnen. Es bleibt trotzdem eine aufwendige Prozedur. Zwei Gewebeschichten bilden das Grundgerüst. Dazwischen verwebt man einen zweiten Kettfaden zu Schlaufen. Diese werden am Ende des Prozesses in der Mitte durchtrennt. Dadurch entstehen zwei Samt-Bahnen, die das Gewebe definieren. Als Samt darf nur Gewebe betitelt werden, das eine Florhöhe von maximal zwei Millimetern aufweist. Alles darüber gilt als Velours. Samt wird zudem in Pannesamt, Crushed-Samt und Prägesamt unterschieden. Die Wirkung der zu einem kurzen Flor geschlungenen Fasern ist oft steif und schwer. Doch spätestens seit die Designer ihre Interpretationen von dem Traditionsstoff über den Laufsteg geschickt haben, herrscht Gewissheit, dass Samt in all seinen Farben und Formen den Weg zurück in unsere Kleiderschränke findet.
Dass Samt ausgerechnet jetzt sein Comeback erlebt, hängt mit der Rückbesinnung auf die Modetrends der siebziger Jahre zusammen. Samt ist weder sexy noch provokant, er wirkt friedlich und gibt ein sicheres Gefühl. So etwas schätzte man damals. So etwas kann auch in unsicheren Zeiten wie diesen nicht schaden. Zugleich wirkt Samt, obwohl er jetzt so allgegenwärtig ist, immer noch ein bisschen absurd. Er lässt unterschiedliche Styling-Möglichkeiten zu, Samt in Dunkelgrün schmückt bei offizielleren Terminen zum Beispiel so wie der schimmernde Flaum den Erpel. Kommt besser als jede erwartbare Seidenbluse. Die Samt-Sneakers stellt man schon jetzt bereit für die ersten Tage ohne Schnee auf den Straßen. Samt ist selbst etwas für die diesjährige Ballsaison, übrigens sowohl für Männer als auch für Frauen. Mit einem Mann zu tanzen, der einen kuschelweichen Samtanzug anhat, macht jedenfalls genauso viel Spaß, wie selbst ein Samtkleid zu tragen.
Queen Elizabeth hat es schon immer gewusst. Aber zum Neujahrsempfang vergangenen Jahres erschien auch Kronprinzessin Mary von Dänemark in einer Traumrobe aus Samt und Seide in Königsblau. Sie ist nicht neunzig, sondern wird nächste Woche 45. Und sie gilt nicht umsonst als heimliche Stil-Ikone.