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„Lonely Planet“ über Berlin : Die Stadt, die nie schläft

  • -Aktualisiert am

What goes up must come down: Die East Side Gallery in Friedrichshain-Kreuzberg ist noch immer ein beliebtes Touristenziel in Berlin. Bild: dpa

Trinken wird in Berlin als religiöse Übung verstanden. In der aktuellen Ausgabe des Reiseführers „Lonely Planet“ werden nicht nur historische Reize der Hauptstadt entdeckt, sondern vor allem das „Party Paradise Berlin“ vorgestellt.

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          „Vergessen Sie New York – in Wirklichkeit ist Berlin die Stadt, die niemals schläft.“ Das ist die programmatische Ansage des Reiseführers „Lonely Planet“, Ausgabe 2015, gleich nach dem Inhaltsverzeichnis und dem Kapitel „High on History“. Cafés seien rund um die Uhr voll besetzt, Trinken werde in Berlin als „religiöse Übung“ verstanden. Die Autorin, Andrea Schulte-Peevers, überschreibt ihre Vorstellung „Why I love Berlin“ und endet mit den Worten: „And it loves you back – if you let it in.“

          Nach diesem hochgestimmten Vorwort wirken „Berlin’s Top 10“ ernüchternd: Brandenburger Tor, Reichstag, Mauer, Museumsinsel, „Nightlife“, Potsdamer Platz, Holocaust-Mahnmal, „Street Art & Alternative Living“, Schloss Charlottenburg, Kulturforum.

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          Aber es stimmt ja, so ähnlich sehen die meisten Listen von Berlin-Besuchern aus. Auch die baubedingten Schließungen und Bauvorhaben kommen jedem vertraut vor: Pergamonmuseum wird saniert, Staatsoper auch, Stadtschloss entsteht, U-Bahn Linie 55 wird gebaut. West-Berlin erlebt auch im „Lonely Planet“ ein Comeback, und der auf den Gleisen entstandene Park am Gleisdreieck zwischen Kreuzberg und Schöneberg hat es zu Recht in den Reiseführer geschafft.

          Jeder Berliner wird Listen untergegangener Lieblingslokale herunterbeten können. Im „Lonely Planet“ lernt man, wie viele es geschafft haben, die Zeitläufte und Moden zu überdauern: Allen voran das „Diener“, die Pizzeria „Ali Baba“ und der olle „Schleusenkrug“ (Frühstück bis drei Uhr nachmittags), aber auch die berühmten Sauf- und Abschlepphöhlen der Achtundsechziger: „Zwiebelfisch“ und „Dicke Wirtin“. Dankbar staunt, wer zwischen zwei hochgelobten Restaurants leben darf, dem japanischen „Ishin“ in Mitte und der „globally inspired“ „Frau Mittenmang“ in Prenzlauer Berg.

          „Party Paradise“ aber heißt das Zauberwort für junge Berlin-Besucher – die Paradiese allerdings ächzen inzwischen unter den Gästen. Die Namen der Lokale sind sprechend. Im „Süß war gestern“ ist es so schummrig, dass angeblich jeder dort gut aussieht. Das „Himmelreich“ bestätigt all jene, die glauben, dass Schwule einen besseren Geschmack als Heteros haben. Die „Booze Bar“ ist keine Saufanstalt, sondern „a classy antidote to the happy-hour madness of the Simon-Drach-Straße party drag“, also ein Gegengift zur hegemonialen Kultur der Nachbarschaft. „Sanatorium 23“ und „Suicide Circus“ vervollständigen das Bild. Die armen Nachbarn! Das berühmte „Berghain“ hat ja keine.

          Prenzlauer Berg wird richtig als Wohngegend für junge Familien beschrieben, ohne „must-see-sights“, aber voller Spielplätze, Cafés, Läden. Ein Spaziergang vom Bio-Supermarkt am Senefelder Platz zu Konopkes Currywurstbude unter der Hochbahn sagt alles: Hier haben Bewohner gegen Besucher gewonnen.

          Die Autorin beweist guten Geschmack

          Aber der „Lonely Planet“ ist nicht der Reiseführer für junge Leute, die vor allem an kurzfristiger Triebbefriedigung interessiert sind. An diesem Buch liegt es jedenfalls nicht, dass die Gemäldegalerie spektakulär wenig Besucher hat. Sie wird als „Top Sight“ geführt und hoch gelobt: „Expect to feast your eyes on masterpieces“. Guten Geschmack beweist die Autorin auch bei der Hervorhebung eines Mahnmals der bescheidenen, aber effektiven Sorte, dem „Rosa Winkel“ am U-Bahnhof Nollendorfplatz im „Gay Village“, mit dem der homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird.

          Ist es wirklich unhöflich, das Trinkgeld auf dem Tisch liegen zu lassen? Unklug vielleicht, wenn man möchte, dass es der Kellner bekommt. Werden die privaten Küchen tatsächlich hauptsächlich zum Aufbewahren von Bier und Mineralwasser in Kästen genutzt? Der aufmerksame Besucher wird es rasch selbst merken.

          In diesem Führer ist „High on History“ kein billiger Spruch. Die sechs Wohnsiedlungen aus den frühen zwanziger Jahren werden liebevoll vorgestellt. Und man versteht, warum es so wenig Mauer in Berlin gibt, wo die Reste stehen, wie die Mauer funktionierte, die auf den ersten Blick mit den bunten Graffiti und den gepflegten Anlagen so harmlos wirken kann. „What goes up must come down“ – das Zitat fasst die Mauergeschichte bündig zusammen. Die Einsicht könnte auch auf den boomenden Berlin-Tourismus zutreffen.

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