Pauschalreisen : „Wo sind die Weiber?“
- -Aktualisiert am
Ballermann am Balaton: Bierselige Busreise an den Plattensee Bild: Martin Wittmann
„Für kleines Geld viel erleben“: 17 Stunden Fahrt, begleitet von Billig-Wodka, Dosenbier und derben Sprüchen. Wohnen im Plattenbauhotel mit Ballermann-Atmosphäre rund um die Uhr. Mit „Rainbow Tours“ für 159 Euro eine Woche lang Busurlaub am Plattensee. Ein Selbstversuch von Martin Wittmann.
Die meisten sind schon betrunken, als ich am frühen Abend in Frankfurt einsteige. Nur drei Mädchen scheinen noch halbwegs nüchtern - es sind die einzigen Mädchen im ganzen Bus. Der Fahrer, ein bulliger Kerl um die fünfzig, will was sagen und brüllt erst mal „Schnauze!“ den Gang runter. Tatsächlich herrscht danach für einen Moment Ruhe. „Ihr sauft viel, ihr pisst viel, aber haltet mir das Klo sauber!“ Die Meute hört kurz hin und säuft ungerührt weiter.
Billig-Wodka wird in Pepsi geschüttet, einer entkorkt eine Flasche Rotwein, neben den Sitzen türmen sich grüne Beck's-Dosen und weiße Plastikbecher. Älter als Anfang zwanzig ist kaum jemand an Bord. So ungefähr muss man sich wohl eine Klassenfahrt vorstellen, wenn kein Lehrer dabei ist. „Ficken“ schreit einer aus der letzten Reihe, „Porno“ ruft ein anderer. Knapp zwei Stunden nach der Durchsage des Busfahrers ist die Toilette vollgekotzt.
„Dann reiß ich mir eben eine Ungarin auf!“
Die letzte Station auf dem Weg nach Ungarn ist ein S-Bahnhof bei Nürnberg; eine junge Familie steigt zu. Dem Paar mit seinen beiden Kleinkindern schlägt außer dem Alkoholdunst eine Mischung aus Mitleid und Entsetzen entgegen. „Mit so was wie uns würde ich nicht in den Urlaub fahren“, flüstert mir mein benebelter Sitznachbar zu.
Er klingt ernsthaft besorgt und beendet diesen kurzen Moment der Selbstreflexion mit einem Schluck Rotwein. „Und wo sind die Weiber?“ ereifert sich ein schmächtiger Frankfurter mit übergroßer Baseballmütze auf dem Kopf, als sich auch noch eine halbe Fußballmannschaft auf die letzten Plätze im Bus verteilt. „Die sind in Rimini“, schreit der Busfahrer zurück. Antwort: „Dann reiß ich mir eben eine Ungarin auf!“
Wodka-Flaschen machen die Runde
Es geht weiter. Wodka-Flaschen machen die Runde, der Alkoholpegel steigt, das Bedürfnis nach Geselligkeit auch: „Hi, ich bin der Michi. Wo kommst du denn her? Prost erstmal!“ Hinter der österreichischen Grenze, so gegen Mitternacht, ein überraschender Halt an einer Tankstelle. Pinkelpause? Ein paar Jungs krakeelen rum: „Ey, nicht schon wieder anhalten!“ Aber es muss sein, denn die Bremslichter am Bus sind kaputt.
Der Busfahrer steigt aus und weiß auch nicht weiter. Zum Glück ist ein Elektriker an Bord. Der schwankt zwar schon gewaltig, aber es reicht noch, um den Fahrer in die Geheimnisse des Sicherungskastens einzuweisen. Mit Erfolg: Nach ein paar Minuten funktionieren die Lichter wieder. Wer ausgestiegen war, tritt jetzt seine Kippe aus und schlurft zurück zu seinem Sitz. Der Rest der Nacht ist ruhiger als erwartet - irgendwann macht Alkohol zum Glück auch müde.
„Seit wann ist denn hier der Krieg aus?“
Am frühen Morgen passieren wir die Grenze nach Ungarn. Ein Uniformierter steigt in den Bus, geht durch die Reihen und lässt sich kurz die Ausweise zeigen. Irgendwie ein schönes Ritual, das tatsächlich so etwas wie Urlaubsstimmung weckt. Die Landschaft weniger: verdörrte Maisfelder, vertrocknete Sonnenblumen, dazwischen immer wieder ein paar alte Häuser, von denen der Putz bröckelt.
„Seit wann ist denn hier der Krieg aus?“, murmelt ein neunzehnjähriger Kölner mit Kurzhaarschnitt und Baggy-Pants. Die anderen sind entweder verkatert, schon wieder betrunken oder zumindest damit beschäftigt, es bald wieder zu sein. Wie übrigens die ganzen Zeit während des 159-Euro-Urlaubs mit „Rainbow Tours“ („Für kleines Geld viel erleben“) am Balaton.
Ungarn und Billig-Touristen aus Deutschland
Nach 17 Stunden Fahrt kommt Unruhe auf. Verschwitzte Arme kleben am schwarzen Kunstleder der Sitze, Zähneputzen könnte nicht schaden - aber das Klo ist immer noch vollgereiert. Egal, denn wir sind endlich am Ziel: Siófok. Der Ferienort am Plattensee („geniale Partys zu unschlagbaren Preisen“), von meinen Mitreisenden „Siófuck“ genannt, zählt etwa 20.000 Einwohner. Dazu gesellen sich jeden Sommer rund 150.000 Urlauber: vor allem Ungarn und Billig-Touristen aus Deutschland. „Rainbow Tours“ trägt sein Scherflein mit bis zu vierhundert Gästen pro Woche dazu bei.
Der erste Eindruck: Kioske, Imbissbuden, Stände mit massenweise Sonnenbrillen. Und Restaurants, die sich mit Sonderangeboten zu übertrumpfen versuchen: „Bier ein Euro!“, „Gulasch zwei Euro!“, „Pizza drei Euro!“ Dass die Preise auch in der Landeswährung Forint angegeben werden, gehört genauso zum Lokalkolorit wie die vielen Werbeplakate für Striptease-Bars mit „Lesbi-Shows“ und Tabledance.
Plattenbau der Kategorie „Touristenklasse“
Unser Bus parkt vor einem Hotel namens „Lido“. Wieso heißen solche Läden eigentlich überall auf der Welt gleich? Bei diesem „Lido“ handelt es sich jedenfalls um einen Plattenbau der Kategorie „Touristenklasse“. „Tourist“ muss hier so etwas wie ein Schimpfwort sein: Vor dem Hotel stehen weiße Plastiktische voller leerer Bierdosen, sofort bildet sich eine meterlange Schlange vor dem Check-in. Die meisten Gäste vertreiben sich die Wartezeit mit einem Bierchen in der Hand. Sie tragen weite Jogginghosen, sind müde und rufen nach Betten.
Dazwischen stehen die Reisebegleiter in roten Poloshirts und telefonieren hektisch in der Gegend herum - das „Lido“ ist nämlich überbucht. Kaum ein Guide ist älter als die Urlauber, dafür sind sie nüchtern. Flüchtlingslageratmosphäre. Zwei All-inclusive-Gäste laufen vorbei und begrüßen die Neuankömmlinge mit den Worten: „Willkommen im Club! Freut euch schon mal auf die tägliche Ration Spaghetti.“ Beide tragen das gleiche T-Shirt. Aufschrift vorne: „Unser letzter Wille“. Auf der Rückseite: „4,5 Promille“. Immerhin scheint die Sonne.
Rosa All-inclusive-Bändchen am Handgelenk
Weil das „Lido“ voll ist, werde ich ins Hotel „Olivia“ umgebucht, es liegt gleich gegenüber. Glück gehabt: kein Plattenbau, nur dreistöckig. Und zumindest von außen trotz der riesigen Werbetafeln für Badehosen und Luftmatratzen irgendwie gemütlicher als das „Lido“. Um nichts auszulassen, hatte ich „Mehrbettzimer“ gebucht. „Mehrbettzimmer“ bedeutet: Zweibettzimmer plus Zustellbett. Der Raum ist gut zwanzig Quadratmeter groß, von der Liegefläche abgesehen, bleibt also gerade noch Platz zum Umziehen auf einem abgetretenen Teppich in der Ursprungsfarbe Grau.
Meine Zimmergenossen sind zwei soeben volljährig gewordene Berliner: ein kleiner Blonder und ein Größerer mit schwarzem Haar und dunklen Augenringen, die auch während der nächsten Tage nicht verschwinden werden. Freundliche Jungs mit einer Vorliebe für Paprikachips, die sich die fettigen Finger an der Jogginghose abwischen, bevor sie mir die Hand geben. Jeder räumt sein Zeug in das schmale Schränkchen - wie bei der Bundeswehr. Weil ich zu müde bin, kann ich mir ihre Namen nicht merken. Gegenseitig nennen sie sich „Alter“ oder „du Sack“. Um die dünnen Handgelenke tragen sie rosa All-inclusive-Bändchen. Und die Club-Card haben sie auch. Ich lege mich auf das Zustellbett und schlafe ein.
Schaum-Partys, Beach-Clubs und Single-Feten
Die Club-Card! Das Eintrittsticket in die Welt der immerwährenden Urlaubsfreuden. 35 Euro kostet das Plastikkärtchen, und es verspricht verbilligten oder sogar kostenlosen Zutritt zu Schaum-Partys, Beach-Clubs und Single-Feten. Das Ding wird den Gästen schon im Bus angedreht wie Heizdecken auf einer Butterfahrt. Und natürlich lässt sich niemand diese einmalige Chance entgehen. Auch ich habe die Club-Card gekauft und meinen Namen hintendrauf geschrieben - so, wie es sich gehört. Heute Abend soll sie sich bewähren. Aber jetzt muss ich erst mal schlafen.
Als ich am Nachmittag wieder aufwache, bin ich allein. Meine Mitbewohner haben zwei Mädchen vom Stockwerk über uns kennengelernt und sind mit ihnen an den Strand gelaufen. Das Zimmer stinkt nach menschlichen Ausdünstungen. Ich reiße das Fenster auf, aber es hilft nichts: Draußen riecht es genauso - nur, dass da noch Baulärm herrscht. Am Strand ist es besser, trotz dezenter weißer Schaumkrönchen auf dem Wasser und gestrandetem Plastikmüll. Es ist hell und heiß und windstill. Bierselige Stimmung. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne und wird von einem der Frankfurter beschimpft: „Hey, du dumme Schwuchtel, verzieh dich!“ Gelächter.
Testosterongeladene Abwehrspieler in der Pubertät
Dann kommen die Animateure in ihren roten Shirts und machen auf Stimmung: irgendwelche Strandspielchen, die alle irgendwie mit Sangria zu tun haben. Entweder man muss trinken, um zu gewinnen, oder man muss trinken, wenn man gewonnen hat. Wer nicht mitspielt, trinkt trotzdem. Am liebsten Bier. Dann kündigt ein Reiseleiter das Abendprogramm an und erinnert bei dieser Gelegenheit noch mal an die Segnungen der Club-Card. „Damit wird die Party heute Abend noch günstiger!“ „Lügner“, brüllt ihm ein Gast entgegen, der offenbar schon die eine oder andere Club-Card-Party miterlebt hat. Diesmal lacht niemand.
Siófok für 159 Euro die Woche, das bedeutet vor allem: morgens Chlorgeruch im Frühstückssaal, ein „Dreher“-Six-Pack nach der Mittagspizza und Abende mit viel Bier und der immer geringer werdenden Hoffnung auf Sex. Mann spricht Deutsch, Frau Ungarisch. Allerdings scheinen nur die allerwenigsten Ungarinnen Appetit auf testosterongeladene Abwehrspieler mittelfränkischer Fußballvereine zu haben, die gerade in der Spätphase ihrer Pubertät stecken. „Sollen wir jetzt wirklich jeden Morgen mit Kopfweh aufwachen und so lange saufen, bis wir einschlafen?“, fragt irgendwann einer der verkaterten Nürnberger Kicker in die Runde, als man sich gerade auf dem schmalen Grünstreifen des hoteleigenen Strands niedergelegt hat. Die anderen starren in den Himmel, einer hebt die Dose, rülpst laut und sagt: „Prost!“
Lauwarmer, nach Hustensaft schmeckender Likör
In meinem Zimmer wachsen derweil die Kleiderberge bis fast unter die Decke, neben den Nachbarbetten stapeln sich die Pizzakartons, und der allabendliche Spaziergang auf der Partymeile von Siófok führt an den immergleichen Orten vorbei: „Havanna Bar“, „Castello“, „Coke Beach“, dazwischen Pizzastände und Döner-Läden. Eine Frau malt jungen Mädchen mit Henna Arschgeweihe auf die sonnenbrandroten Rücken, im Hintergrund singen Guns N' Roses von „November Rain“. Deutsche Jungs sitzen an Freilufttischen, kratzen die Aufkleber von ihren „Dreher“-Bierflaschen und malen sich aus, wer von ihnen wohin ausweichen müsste, falls tatsächlich mal einer ein Mädchen aufs Mehrbettzimmer abschleppen sollte.
Aber am Ende landen doch wieder alle im „Flört“, einer mehrstöckigen Disko mit „Beach-Party am Indoor-Pool, Welcome Drink und Getränkeaction“. Die Anschaffung der Club-Card muss sich ja irgendwann lohnen. „Beach-Party“ im „Flört“ bedeutet, dass zwischen den Stockwerken ein Windsurfingsegel rumhängt, die Besucher in einem knietiefen Planschbecken von der Größe einer Badewanne („Indoor-Pool“) tanzen und dabei einen lauwarmen, nach Hustensaft schmeckenden Likör („Welcome Drink“) in sich hineinschütten.
Als ich gegen drei Uhr morgens ins Hotel zurückkomme, liegen die beiden Berliner im Bett und schauen „Ungeklärte Morde“ auf RTL II. Im Halbschlaf bekomme ich noch mit, wie der mit den Augenringen zu dem Kleinen sagt: „Weeßte, wat ick letzte Nacht jeträumt hab, Alter? Dat die Keule von oben hier runter in mein Bett kommt und ick sie so richtig jehämmert hab.“