Spielzeug der Nachkriegsjahre : Wunderwelten aus Schrott
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Not macht erfinderisch: Mit diesem zum Paddelboot umgebauten Militärflugzeugtank bezwangen Kinder nach Kriegsende kleinere Flüsse. Bild: dpa
Eine Patronenhülse als Pfeife, ein Jo-Jo, gebastelt aus zwei Gasmaskenfiltern und einer Papierschnur: Eine aufwühlende Ausstellung des Nürnberger Spielzeugmuseums zeigt Kinderspielzeug der Nachkriegszeit – und die Geschichten dahinter.
An die erste Begegnung mit seinem Vater erinnert sich Gerd Maier genau. Der Vater Richard kehrte 1947 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, eine Fellmütze auf dem Kopf und einen Holzbaukasten in der Hand. Es war ein Geschenk für den damals sechs Jahre alten Sohn. Der handwerklich geschickte Bauingenieur hatte die Bauteile in einem sibirischen Holzfällerlager geschnitzt – und den Mut aufgebracht, gegen das Verbot aufzubegehren, bei der Entlassung aus der Gefangenschaft etwas anderes als Kleidung mitzunehmen. Richard Maier stellte den Baukasten vor die Entlassungskommission und fügte auf die barsche Frage, was das denn solle, blitzschnell einen Spielzeugtraktor zusammen.
Die Bewacher ließ es nicht ungerührt, dass ein Vater seinem Kind nicht mit leeren Händen gegenübertreten wollte. Richard Maier durfte die Fahrt nach Hause mit dem Baukasten antreten.
Von dem Kasten hat nur die Bauanleitung die Jahrzehnte überdauert. Sie ist jetzt im Nürnberger Spielzeugmuseum zu sehen, in einer Ausstellung, die Spielzeug aus der Kriegs- und Nachkriegszeit zeigt. „Notspielzeug“ lautet der Titel der Ausstellung, weil die Spielsachen in einer Zeit gefertigt wurden, in der Mangel und Hunger herrschte. Aus Abfall, Stoffresten und Kriegsschrott wurden kleine Wunderwelten geschaffen, in denen sich kindliche Phantasie entfalten konnte. Die Ausstellung ist die Antithese zu der Klage, die Kriegs- und Nachkriegskinder seien in einer emotional kargen Umwelt aufgewachsen, in der es nur um das Überleben gegangen sei. Ein Beispiel von vielen: Aus der Uniformhose eines amerikanischen Soldaten schneiderte Maria Wekerle 1946 die Bärin „Brummhilde“ für ihre Tochter Traudl, die ein Jahr zuvor zur Welt gekommen war.
Ergreifende Exponate
Jedes Exponat ist mit einer persönlichen Geschichte verbunden – das macht den Besuch der Ausstellung zu einem ergreifenden, ja aufwühlenden Erlebnis. Sie ist eine „Bürgerausstellung“, zu der nach einem Aufruf des Spielzeugmuseums viele Menschen beigetragen haben – mit Spielsachen, die in den Familien als Schätze gehütet worden sind, mit biographischen Erzählungen, mit Fotos und Dokumenten. So zeigen Bilder Kindheitstage von Traudl Wekerle, mit „Brummhilde“ fest an ihrer Seite. Die Eltern hatten vor dem Krieg in Budapest gelebt. Als der Vater in die Wehrmacht eingezogen wurde, sagte er zu seiner Frau: „Nach dem Krieg treffen wir uns in Puschendorf.“ In dem fränkischen Dorf hatten die Wekerles Bekannte. Und so geschah es – die Familie wurde bei Bauern einquartiert, und Traudl erlebte eine fränkische Kindheit. Auf einem Bild ist sie mit Puschendorfer Kindern auf einem hoch beladenen Erntewagen zu sehen – und natürlich fehlt auch dort „Brummhilde“ nicht.
Die Geschichte des Notspielzeugs wird durch solche Zeugnisse in der Ausstellung gegenwärtig. Sie werden dank eines vorzüglichen Katalogs auch in der kollektiven Erinnerung bleiben, wenn die Ausstellung im Februar nächsten Jahres ihre Pforten schließt und die meisten Exponate wieder in die Familien zurückkehren. Fred Vorderer schildert, wie bei einem Luftangriff sein Elternhaus in Schutt und Asche versank. Inmitten der Trümmer stand sein Stiefvater und hielt das einzige Stück hoch, das geborgen werden konnte: das rote Feuerwehrauto, das er für Fred gebastelt hatte. Der Miniatur-Löschzug aus Metall steht in der Ausstellung, als wäre der Tag, der sich ins Gedächtnis Vorderers eingeprägt hat, erst gestern gewesen.
Aus Spielsachen wurden Rüstungsgüter – und nach Kriegsende wieder Spielsachen
Diese Unmittelbarkeit strahlt auch die Puppenstube aus, die Wilhelmine Vogel in den Kriegsjahren für ihre Tochter Gertrud bastelte, die sie allein erzog. Bei Fliegeralarm packte die Mutter die kleinen Möbel, die sie aus Sperrholzplatten ausgesägt hatte, in ein Säckchen, das sie in den Luftschutzkeller mitnahm. Weihnachten 1944 war es dann soweit – Gertrud Vogel wurde mit der Puppenstube beschenkt: „Ich weiß noch, dass ich damals aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam.“ Auch jetzt lässt das vollständig erhaltene Wunderwerk der Wilhelmine Vogel, mit Puppen, deren Gliedmaßen beweglich sind, nicht nur Kinder staunen.
Die Zeit des Notspielzeugs begann mit einem Erlass im März 1943, in dem die Herstellung von Spielzeug beschränkt wurde, um Kapazitäten für die Rüstungsindustrie zu schaffen. Aus Spielsachen wurden Rüstungsgüter – und nach Kriegsende wieder Spielsachen. Die Kreativität kannte kaum Grenzen: Aus einer Patronenhülse wurde eine Pfeife gebastelt; zwei Gasmaskenfilter und eine Papierschnur ergaben ein Jo-Jo; mit Leuchtpatronen wurden Kaleidoskope gebastelt.
Ein Paddelboot aus dem Zusatztank eines Jagdbombers
Ein Glanzlicht der Nürnberger Ausstellung ist ein Paddelboot, gefertigt aus dem Zusatztank eines Jagdbombers. Sepp Brandl schildert, wie er mit seinen beiden Brüdern zum Bootsbauer wurde: „Wir haben eine Öffnung reingestemmt und die scharfen Ränder umgebogen, damit sich niemand daran verletzen konnte.“ Dann wurde der Boden waagrecht geklopft, und sie bauten Bretter als Sitze ein – ab ging es auf die Glonn und die Mangfall.
Das Ende des Notspielzeugs kam in der Bundesrepublik in den späten fünfziger Jahren mit dem wirtschaftlichen Aufschwung. Gut gefüllte Lohntüten brachten die Konsumkultur in die Kinderzimmer. Die tröstende Botschaft des Notspielzeugs blieb: Mag die Welt auch in Trümmern liegen, im Spiel der Kinder wird sie wieder heil. Wolfgang Knorr wurde im Januar 1945 Zeuge der Zerstörung seines Münchner Elternhauses im Bombenhagel. Danach bastelte er für seinen Vater zum Geburtstag ein Miniatur-Diorama in einer Zündholzschachtel – mit einem unversehrten Wohnhaus.