Zwei Frauen warten auf den Tod : Bevor es Nacht wird
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Wenn Elli auf ihr Leben zurückblickt, spürt sie Dankbarkeit. Wenn Gerda auf ihr Leben zurückblickt, sieht sie nur Leid. Bild: Thomas Fuchs
Zwei Frauen, beide Mitte neunzig. Die eine will nur noch sterben, sie hält das Leben nicht mehr aus. Die andere wartet ebenfalls auf den Tod. Aber ganz ohne Ungeduld.
Gerda und Elli haben sich noch nie getroffen, aber sie haben etwas gemein: Beide stehen auf der Schwelle zum Tod. Sie finden, dass sie lange genug gelebt haben, fast fünfundneunzig Jahre. Jetzt möchten sie gehen, sterben. Gerda sagt: „Ich ertrage das Leben nicht mehr. Es ist furchtbar.“ Sie kann stundenlang so reden, und jedes Mal wird ihre Stimme dabei ganz hart. Als müsste Gerda einen tief in ihrer Kehle steckenden Schrei unterdrücken. Elli sagt: „Ich habe von allem gehabt. Es ist jetzt gut.“ Sie schließt die Augen und lächelt.
Die Schwelle zum Tod, was ist diese Schwelle für ein Ort? Warum fühlen sich manche Menschen, wenn sie ihn erreichen, wie ausgestoßen, und andere wie angekommen? Man kann diesen Ort besuchen. Zumindest Gerda und Elli, die dort leben.
Gerda wohnt allein in einer Dreizimmerwohnung am Stadtrand. An den Wänden hängen unzählige Fotos von ihrem Mann Johann, ihren Töchtern und Enkelkindern. Johann ist seit dreißig Jahren tot. Die Enkel leben im Ausland. Zu den Töchtern hat sie kein gutes Verhältnis. Wenn sie von ihren Töchtern spricht, wird der Blick ihrer grauen Augen schneidend. „Das sind boshafte Menschen, beide. Die empfinden nichts, die haben keine Gefühle.“ Mit der Jüngeren hat Gerda überhaupt keinen Kontakt mehr, die Ältere kommt alle drei Wochen vorbei, um die Post zu kontrollieren, Wäsche zu waschen, einzukaufen. Sie geben sich zur Begrüßung und zum Abschied kurz die Hand. Das sind die einzigen Male, an denen Gerda von einem anderen Menschen berührt wird.
Ein Tag im Leben von Gerda und Elli
Ein Tag im Leben von Gerda sind vierundzwanzig Stunden vollkommene Einsamkeit. Sie steht um halb sieben auf und stellt als Erstes im Schlafzimmer, im Bad und in der Küche das Radio an, im Wohnzimmer den Fernseher. Bis die ganze Wohnung erfüllt ist mit Stimmen. Dieser Gang von Zimmer zu Zimmer strengt Gerda an. Sie gerät schnell außer Atem, schnauft. Aber statt sich eine Pause zu gönnen, beginnt sie, eine Melodie zu brummen, laut und grimmig. Marschmusik, jeder Takt ein Schritt. So geht es. Später sitzt sie vor dem Fernseher und frühstückt eine Scheibe Brot mit Leberwurst, eine geviertelte Tomate. Die Tomate tropft auf die Hose, auf der bereits andere, ältere Flecken sind. Gerda bemerkt es nicht. Sie muss sich zwingen, etwas zu essen. Sie sagt: „Früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, saßen wir manchmal zu zehnt am Tisch.“ Ihr Gesicht strahlt. Bis sie merkt, wo sie ist. Gegen neun kommt ein Mann vom ambulanten Pflegedienst. Er legt vierzehn Tabletten auf Gerdas Teller und wartet, bis Gerda sie alle geschluckt hat. Dann geht er, und sie ist wieder allein. Sie hat Angst.
Bei Elli ist es anders: Sie ist nie allein. Seitdem sie nicht mehr ohne Hilfe gehen kann, wohnt sie bei ihrer Tochter in einem alten Holzhaus. Trotzdem schreckt sie nachts manchmal aus dem Schlaf und fühlt sich unendlich verlassen. Ihr ist kalt. Sie weiß nicht, woher dieses Gefühl kommt. Es währt nur Sekunden. Nur so lange, wie Elli braucht, um einmal in Gedanken durch das Haus zu gehen. Von Zimmer zu Zimmer. Sie ruft sich in Erinnerung, dass dort Menschen schlafen, die sie lieben. Die Tochter, der Schwiegersohn, die Enkel. Am Ende kehrt sie wieder in ihr eigenes Zimmer zurück, in ihren Körper, der nun warm und weich ist.
Elli wird früh wach. Es ist noch alles still um sie herum. Auch in ihr drin. Sie mag diese Stille. Sie liegt mit geschlossenen Augen da und denkt an nichts, bis aus dem Nichts der Vater tritt. Er starb so früh. Elli vermisst ihn, aber dieses Vermissen reißt nicht mehr an ihr. Es ist wie ein unbewegter, dunkler See. Viel später hört Elli, wie der Schwiegersohn leise ihr Zimmer betritt. Wie jeden Morgen setzt er sich auf den Stuhl neben dem Bett und wartet. Wie jeden Morgen öffnet sie erst nach einer kleinen Ewigkeit die Augen und erzählt ihm von ihrem Vater. Irgendwann führt der Schwiegersohn Elli ins Bad. Er hilft ihr, auf die Toilette zu gehen. Er wäscht sie, kämmt ihr die Haare und hängt ihr eine Kette mit bunten Steinen um den Hals. Dazu singt er alte deutsche Lieder. Oder er erzählt ihr von seinem Vater.
Die Tochter und die Enkel umarmen Elli zur Begrüßung. Sie lacht und schmiegt ihr Gesicht an die Körper. Sie frühstücken schweigend, jeder hängt seinen Gedanken nach. Elli starrt in die Luft, ihre Augen werden immer leerer. Wenn man sie später fragt, wo sie in diesem Moment war, schmunzelt sie und antwortet: „Ich weiß es nicht.“ Elli ist oft weit weg. Sie lässt sich einfach fallen. Sie sagt: „Es ist nicht schlimm.“
Ein Blick auf das Leben, das hinter ihnen liegt
Bei Kriegsbeginn waren Gerda und Elli neunzehn. Beide hatten früh ihre Mutter verloren. Gerda lebte in Oberschlesien und musste 1945 vor der Roten Armee fliehen. Nach dem Krieg war sie allein und besaß nichts. Elli lebte mit ihrem Vater, einem Arzt, in Indonesien, das damals eine niederländische Kolonie war. Als Deutscher kam Ellis Vater sofort ins Gefängnis, Elli selbst musste nach kurzer Gefangenschaft das Land verlassen. Nach dem Krieg war sie allein und besaß nichts. Gerda heiratete, bekam zwei Kinder und lebte mit ihrer Familie in einem hübschen Einfamilienhaus. Elli studierte Medizin, ging als Ärztin wieder nach Indonesien. Sie heiratete und wurde ein paar Jahre später von ihrem Mann wegen einer Jüngeren sitzengelassen. Mit drei kleinen Kindern und einem indonesischen Kindermädchen kehrte sie nach Deutschland zurück. Sie schuftete Tag und Nacht. Irgendwann reichte es auch bei ihr für ein hübsches Einfamilienhaus.
Wenn Elli auf ihr Leben zurückblickt, spürt sie Dankbarkeit. Am dankbarsten ist sie für die Liebe ihrer Kinder. Sie wiederholt diesen Satz oft, ohne dass ihr das bewusst ist. Ihr Gesicht glüht dabei vor Glück. Wenn Gerda auf ihr Leben zurückblickt, sieht sie nur Leid. Ist mal ein Mensch in ihrer Nähe, egal wer, erzählt sie ihm von diesem Leid. Sie redet hastig, ohne nachzudenken, ohne Pause. Zwei Stunden lang, oder nur zehn Minuten, je nachdem, wie viel Zeit der Mensch hat. Jede Geschichte erzählt sie mehrmals hintereinander, nahtlos folgt dem Ende wieder der Anfang. Bis sie irgendwann zur nächsten Geschichte springt. Es geht um nichts anderes als um dieses Leid. Gerda fühlt sich vom Leben verjagt. Sie findet keinen Trost, egal wie oft sie die Geschichten erzählt. Sie sagt: „Warum hört mein Herz nicht endlich auf zu schlagen? Alle Herzen hören irgendwann auf zu schlagen, nur meines nicht!“ Gerda fühlt sich auch vom Tod verjagt.
Früher ging Gerda mittags oft zum Friedhof, um Johanns Grab zu pflegen. Danach aß sie in der nahe gelegenen Konditorei zu Mittag. Inzwischen geht sie nicht mehr raus. Sie fühlt sich zu wackelig auf den Beinen. Ein Caritas-Mitarbeiter bringt das Essen vorbei, und Gerda setzt sich mit dem Teller in ihren Fernsehsessel. Wenn man sie später fragt, ob ihr das Essen geschmeckt hat, sagt sie: „Ich war kurz in der Stadt, in der Konditorei gab es herrlichen Käsekuchen.“ Manchmal vergisst sie, dass sie schon seit zwei Jahren nicht mehr draußen war. Wenn es ihr dann wieder einfällt, schimpft sie sich aus, wie dumm und beschränkt sie sei. Die ältere Tochter meinte einmal, man könne doch einen Besuchsdienst organisieren: eine Frau, die einmal in der Woche mit Gerda spazieren geht. Gerda fauchte: „Ich brauche niemanden!“
Gerda merkt, wie alles wegbricht. Ihr Gedächtnis, ihr Wortschatz, die Kraft in ihren Beinen. Sie erträgt das fast nicht. Gerda traut niemandem. Sie hat nur sich selbst, und wenn sie nicht mehr kann, muss sie in ein Heim. So denkt sie, wahrscheinlich hat sie recht. Heime sind in Gerdas Vorstellung die schrecklichsten Orte auf Erden. Manche Menschen empfinden die Zeit, die ihnen auf der Schwelle zum Tod bleibt, vielleicht als Geschenk. Gerda hält diese Zeit kaum aus. Einmal schluckte sie Tabletten, um zu entkommen. Sie lag drei Tage bewusstlos in der Wohnung, wäre wohl gestorben. Aber ein Nachbar, dem die Milch ausgegangen war, klingelte an ihrer Tür. Als niemand öffnete, alarmierte er die Polizei. Über den Moment, als sie in der Intensivstation erwachte, sagt Gerda nur: „Das waren die furchtbarsten Sekunden meines Lebens.“
Nur noch ein reines, einfaches Gefühl
Elli sei früher, noch bis vor zehn Jahren, eine richtige Grande Dame gewesen, erzählt Ellis Tochter. Sie habe es genossen, im Mittelpunkt zu stehen. Ihre Eleganz und ihr Witz hätten alles und jeden überstrahlt. Heute erinnert nichts mehr an die Grande Dame. Elli ist aufgedunsen vom Kortison, das sie nehmen muss. Sie spricht nur noch stockend, oft verliert sie den Faden. Manche Gedanken streift sie nur und gibt sie im nächsten Augenblick schon wieder auf. Aber man hat den Eindruck: In Elli ist Frieden, während sie verfällt. Sie lässt den Verfall geschehen, so wie man es geschehen lässt, dass im Herbst das Laub fällt, und danach der Schnee. Manchmal scheint es sogar, dass Elli die Dinge, von denen sie sich trennen muss, gerne weggibt. Als wünschte sie sich, dass am Ende nur noch ein reines, sehr einfaches Gefühl in ihr fortlebt. Und irgendwann nichts mehr.
Manchmal versucht Elli zu beschreiben, wie es in ihr drin aussieht. Wie es ihr geht. Sie strengt sich an, denkt lange nach, aber es gelingt ihr nicht. Kein Wort bringt sie hervor. Sie zuckt dann jeweils mit den Schultern und lächelt, sagt: „Ich fühle mich hier so geborgen.“ Ellis Gesichtsausdruck ist oft entspannt und heiter. Die Tochter erzählt, dass Elli seit zwei Jahren ein Medikament gegen Depression bekommt. Davor sei Elli oft sehr traurig gewesen, hätte viel geweint.
Nach dem Frühstück geht die Tochter arbeiten, die Enkel in die Schule. Der Schwiegersohn zieht Elli einen Mantel über, hievt sie in den Rollstuhl und schiebt sie in den Garten. Sie sitzen schweigend in der Wintersonne und trinken Kaffee. Irgendwann schläft Elli ein. Am Mittag kommt die älteste Enkelin vorbei, die schon seit einigen Jahren nicht mehr im Holzhaus wohnt. Sie bringt ihren vier Monate alten Sohn mit, Ellis Urenkel. Als Elli ihn sieht, jauchzt sie und breitet ihre Arme aus. Die Enkelin legt das Baby behutsam auf Ellis Schoß. Elli schließt die Augen, tastet den winzigen Rücken ab, das Köpfchen, die kleinen Füße und Hände. Sie lächelt und gibt hohe, zärtliche Laute von sich. Das Baby döst. Sanft drückt Elli es gegen ihren Bauch, fast gierig atmet sie den Geruch ein. Elli sagt oft, dass sie sterben will. Sie sagt es ohne Ungeduld, lächelnd. Aber will sie jetzt, mit dem Baby im Arm, immer noch sterben? Macht sie der Gedanke an den Tod in diesem Moment nicht unendlich traurig? Elli schüttelt den Kopf. „Das Glück macht es mir noch leichter.“
Nachts kann sie nicht schlafen, nachts kommen die Fragen
Gerda verbringt ihre Nachmittage, Abende und Nächte vor dem Fernseher. Wenn sie den nicht hätte, sagt sie, würde sie es nicht aushalten. Die Frage, was genau sie nicht aushalten würde, beantwortet sie nicht. Sie presst die Lippen zusammen und schweigt. Vielleicht gibt es keine Antwort, vielleicht fehlt Gerda auch einfach der Mut, sie auszusprechen: dass es niemanden gibt, der sie vermisst; dass niemand sich dafür interessiert, ob sie lebt oder bereits tot ist; dass sie niemandem etwas bedeutet. Abends um sieben kommt noch einmal der Mann vom ambulanten Pflegedienst, und Gerda muss wieder fünf Tabletten nehmen. Sobald er weg ist, füllt sie sich eine kleine Schüssel mit Vanille-Eiscreme. Das ist ihr Abendessen. Sie lässt es sich langsam, Löffel für Löffel, auf der Zunge zergehen. Trotzdem scheint sie es nicht zu genießen. Ihr Gesicht bleibt hart. Vielleicht braucht Gerda diese Härte, um sich zu spüren. Um nicht wahnsinnig zu werden an der Einsamkeit. Vielleicht ist diese Härte auch viel älter, ein letzter Rest Persönlichkeit.
Seitdem Gerda auf der Schwelle zum Tod steht, hat sie Angst vor der Nacht. Nachts kämen die Fragen, sagt sie, vor allem die Frage, wofür sie büßen müsse. Bevor es Nacht wird, dreht Gerda die Lautstärke des Fernsehers deshalb immer voll auf. Das hilft manchmal. Der Lärm ist so laut, dass sie die Fragen nicht mehr hört und einschlafen kann.
Elli mag die Abende. Alle sitzen um den großen Tisch im Wohnzimmer, essen, erzählen, was sie erlebt haben. Der Schwiegersohn erzählt, ein alter Freund von ihm liege im Sterben. Auch Elli kennt den Freund. Vor vielen Jahren hatte sie ihn ein paar Mal getroffen. Die Tochter holt ein Album mit Fotos aus dieser Zeit hervor und blättert es zusammen mit Elli durch. Zuerst schauen sie sich nur die Fotos mit dem alten Freund an, der jetzt im Sterben liegt. Dann beginnen sie noch einmal von vorne und betrachten jedes Foto einzeln. Auf vielen ist Elli drauf, als Mittfünfzigerin. Auf vielen werden irgendwelche Feste gefeiert. Lachende, verkleidete oder Kuchen essende Menschen. Man sieht, wie Elli als Grande Dame aussah. Elli sieht es auch. Sie lacht.
Bevor es Nacht wird, gibt es für jeden noch einen Kaffee ohne Koffein. Der Schwiegersohn beginnt, wie immer um diese Zeit, mit dem Vorlesen. Er setzt sich ganz nah zu Elli und liest laut, damit sie nichts verpasst. Diesmal ist es eine Kurzgeschichte von Rafik Schami. Elli schließt die Augen und lauscht.