Zeitzeugin über das KZ : Gerade 15 Jahre alt geworden – und in Auschwitz angekommen
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Nach Auschwitz kehrte Rachel Hanan in späteren Jahren mehrfach zurück. Hier sieht man sie mit einer israelischen Schülerin vor einer Baracke des Frauenlagers in Birkenau. Bild: pivat
An ihrem 15. Geburtstag kam Rachel Hanan in Auschwitz an. Mit 93 erinnert sie sich in einem Buch an den schrecklichen Geburtstag, an dem sie ihre Eltern und Brüder ein letztes Mal sah. Ein Auszug.
In den Morgenstunden des 15. Mai 1944 erreichten wir Auschwitz. Dass es Auschwitz war, wusste ich nicht. Wenn man es zynisch formulieren will: Der Deportationszug war eine Geburtstagsreise, Auschwitz mein Geburtstagsgeschenk. Ich wurde an diesem Tag 15 Jahre alt. Der Zug kam nachts auf offenbar freier Strecke zum Halt und fuhr nicht mehr weiter. Erst sehr viel später erfuhr ich, dass unser Zug einer der ersten Transporte gewesen sein musste, der an der neuen Selektionsrampe innerhalb des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau hielt, die just an diesem Tag eröffnet werden sollte.
Vater starrte die ganze Zeit aus dem Zug, aber wie so oft in jüngster Zeit sagte er kaum noch etwas und nahm mich stattdessen in den Arm. Zumindest kann ich mich an keines seiner Worte erinnern. In der Rückschau hat es für mich den Anschein, dass er endgültig verstummt war. Ob er wusste, dass wir in Auschwitz gelandet waren, ob er überhaupt wusste, was Auschwitz war, ob er wusste, was uns hier erwarten würde, auch das werde ich nicht mehr erfahren.
Mein Vater hatte als Oberhaupt der jüdischen Gemeinde viel mit den örtlichen Behörden zu tun, den ungarischen Faschisten und den deutschen Statthaltern. Er wusste mehr, als er uns sagte, aber wie viel tatsächlich? Wusste er davon, dass Hitler alle Juden ermorden lassen wollte? Wusste er, dass es ein Vernichtungslager wie Auschwitz gab, in dem der Massenmord generalstabsmäßig geplant und umgesetzt werden sollte? Und wenn ja, hatte sich deshalb eine so große Trauer über seine ehemals strahlenden Augen gelegt? Ich habe ihn das so nie gefragt, und jetzt konnte ich ihn nicht mehr fragen – es war bereits zu spät.
Das Durstgefühl vergisst man nicht
Wir standen schon seit Stunden, aber die Waggontür blieb immer noch verschlossen. Wir waren noch am Leben, aber das Durstgefühl, das sich in dieser Zeit des Wartens einstellte, vergisst man nicht mehr. Der ausgetrocknete Mund, der keinen Speichel mehr produzierte, die spröden, vertrockneten Lippen, das kratzende Gefühl im Hals, als müsste man ersticken. Wenn ich heute Wasser trinke, dann hole ich tief Luft, setze das Glas an, und während ich trinke, bin ich in Gedanken wieder in den Morgenstunden des 15. Mai 1944. Ich habe heute so gut wie immer ein Glas Wasser vor mir stehen oder eine Wasserflasche bei mir, wenn ich unterwegs bin. Das Gefühl von großem Durst, von unstillbarem Durst, begleitet mich durch mein Leben. Eine halbe Stunde, eine Stunde lang nichts getrunken, vielleicht noch unter Stress, und sofort werden meine Lippen pelzig, und dieses existenzielle Durstgefühl ist wieder da. Als wir in den Zug gestiegen waren, hatten die meisten nur etwas Brot dabei, aber nichts zu trinken. Ein Fehler, den einige von uns mit dem Tod bezahlten. Sie kippten einfach um. Sie verendeten wie Tiere, anders kann man es nicht sagen.
Als die Sonne am Horizont durch den Sichtspalt des Waggons blinzelte, nahm der Geräuschpegel draußen deutlich zu. Wir hörten Menschen, die um den Zug herumstapften, vernahmen einzelne Befehle auf Deutsch, von Minute zu Minute wurde das Gewirr an Stimmen und Geräuschen dichter und dichter, bis auf einmal die Eisenverstrebung gelöst wurde, die die Waggontür versperrte, und diese sich mit einem Knarzen zum ersten Mal seit Tagen wieder öffnete.
Die Männer stiegen aus
Sie stand noch gar nicht ganz offen, als bereits das Gebrüll der SS begann. Ein Aufseher mit gestreifter Jacke und schwarzer Hose sprang in den Waggon hinein, mit Taschenlampe und einem Knüppel bewaffnet, er teilte nach links und rechts Hiebe aus und bahnte sich so einen Weg durch uns hindurch. Wir müssen ein Elendsanblick für ihn gewesen sein. In diesen vier schlimmen Tagen im Transporter war aus Menschen Vieh geworden, das nur noch tat, was ihm befohlen wurde. Verängstigt, halb am Verdursten, der Würde beraubt, ist der freie Wille nur noch eine Schimäre. Der Mann befahl, dass zuerst nur die Männer aus dem Zug steigen sollten, also stiegen die Männer aus. Was hätten sie auch sonst tun können.