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Wider das Vergessen : Erinnerung durch Beseitigung?

Adolf Hitler hat 1938 nicht nur vom Altan am Heldenplatz zu den Wienern gesprochen, sondern – am 9. April – auch vom Wiener Rathaus. Bild: APA

Die Künstlerinitiative „Memory Gap“ erinnert an eine in Vergessenheit geratene Rede Hitlers auf dem Balkon des Wiener Rathauses – und fordert den Abriss.

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          Als Adolf Hitler vor gut 80 Jahren „meine Heimat“ (die verhasste Bezeichnung „Österreich“ umging der Diktator) durch Einmarsch und gelenkte Volksabstimmung dem Gebiet des Deutschen Reichs einverleibte, hielt er mehrere Ansprachen in Wien. Ins ikonographische Gedächtnis eingegangen ist sein Auftritt vom 15. März 1938 am Heldenplatz.

          Stephan Löwenstein
          Politischer Korrespondent mit Sitz in Wien.

          Architektonisch unscharf spricht man meist vom „Balkon“ der Neuen Hofburg, auf dem Hitler stand. Tatsächlich ist das aber nicht eine Plattform, die aus dem Gebäude ragt, sondern eine Art Dachterrasse über einem Gebäudeteil; das nennt man in Österreich Söller oder Altan.

          Es gibt in Wien aber auch einen wirklichen „Hitler-Balkon“, und der ragt aus der Fassade des Rathauses, das ebenfalls an der Ringstraße liegt. Dort hielt der „Führer“ am Vortag des Anschluss-Plebiszits am 9. April eine weitere Rede, nebst seinem Propagandaminister Joseph Goebbels.

          Hunderttausend für die Entfernung

          Für diese Ansprachen am Rathaus wurde eigens ein Balkon aus Holz errichtet, und zwar vor einem Spitzbogen im Mittelturm des neogotischen Gebäudes. Ein paar Monate später wurde das Provisorium in Stein ausgeführt. Der historische Ort sollte sozusagen verewigt werden. Stattdessen fiel er, nach Niederlage und Wiedererrichtung des unabhängigen Österreichs, weithin der Vergessenheit anheim – bis jetzt.

          Eine Künstlerinitiative, die sich schon in ihrem Namen gegen das Vergessen stemmen möchte, „Memory Gap“, erinnert nun daran, was für eine Bewandtnis es mit diesem an sich nicht sehr ins Auge fallenden halbkreisförmigen Balkon hat.

          Die Gruppe um Konstanze Sailer fordert, dass er nicht mehr so stehenbleiben dürfe. Man schlage vor, heißt es in einer „Intervention“, den Balkon von der Fassade zu entfernen und den ursprünglichen Bauzustand wiederherzustellen. Das würde nach Angaben der Initiative weniger als 100.000 Euro kosten.

          Erhalt durch Beschilderung?

          Alternativ, heißt es abschwächend auf Nachfrage, könnte man den Balkon auch dazu nutzen, der durch das Hitlerregime zu Tode gekommenen Rathausbeamten und Abgeordneten zu gedenken. Tafeln anzubringen würde genügen, sagt ein Sprecher der Initiative, aber es gehe nicht an, weiter so zu verfahren „wie die Stadt Wien, die das nur mit Blumen begrünt. Tausende Touristen fotografieren das, ohne zu wissen, was das ist.“

          Die zuständige Wiener Kulturstadträtin, die Sozialdemokratin Veronica Kaup-Hasler, ließ mitteilen, sie begrüße die Diskussion. Sie sprach sich statt Abriss dafür aus, künftig direkt am Objekt auf dessen Geschichte hinzuweisen, so wie es auch bei anderen belasteten Relikten oder etwa Straßenschildern geschehe.

          Die Rektorin der Akademie der bildenden Künste, Eva Blimlinger, plädierte in der Wiener Zeitung „Kurier“ ebenfalls für Erhalt und Kontextualisierung: „Auch dieser Balkon ist, wie so vieles, das im Nationalsozialismus entstanden ist, Bestandteil unserer Geschichte.“

          Anders als beim Geburtshaus Hitlers im oberösterreichischen Braunau, das nach Verstaatlichung weitgehend abgerissen und umgestaltet werden soll, gibt es jedenfalls keinen Leidensdruck durch einen irgendwie gearteten „Hitler-Tourismus“ zum Rathaus. Zumindest galt das bislang, soweit man weiß. So erscheint es paradox, etwas dem Vergessen oder Übersehenwerden zu entreißen, indem man mit großem Aufsehen fordert, es verschwinden zu lassen. Vielleicht hätte man es auch einfach dabei belassen sollen.

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