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„Erwachsen? Das ist man nie“ : Was Volljährigkeit für einen geistig Behinderten bedeutet

Für seine Mutter ist Christoph ihr „Ein und Alles“. Seit das Nesthäkchen jedoch nach Selbständigkeit strebt, fliegen zunehmend die Fetzen. Bild: Andreas Pein

Abschied von der Schule, Ausziehen von Zuhause, die erste Liebe: Wie geht volljährig, wenn man geistig behindert ist? Unsere Autorin hat den Weg von Christoph ein Stück begleitet.

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          Wer volljährig ist, darf Alkohol trinken, also gab es zum 18. Geburtstag im vergangenen Winter Cocktails. „Ich wollte mal probieren, wie so was ist“, sagt Christoph, und seine Mutter ergänzt: „Wir wollten ja richtig mit ihm anstoßen.“ Die große Schwester war angereist, man ging beim Chinesen essen. Das Geburtstagskind bestellte ein Schnitzel und blätterte in der Cocktailkarte mit den bunten Bildern. Eine Piña Colada bitte, für die anderen Mai Tai. Hinterher verzog Christoph das Gesicht. Das, sagte er angewidert, werde er nie wieder trinken.

          Julia Schaaf
          Redakteurin im Ressort „Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

          Wer volljährig wird, ist offiziell erwachsen, aber im Fall von Christoph ist die Lage kompliziert. Erst schickte das Jugendamt den Sozialpsychiatrischen Dienst vorbei und ließ ein Gutachten erstellen, anschließend erging ein Beschluss des Betreuungsgerichts: Christophs Mutter, die bisher das normale elterliche Sorgerecht für ihren geistig behinderten Sohn gehabt hatte, war nun qua Gesetz seine Betreuerin. Der Junge bekam ein eigenes Konto für die Unterhaltszahlungen des Vaters, die Karte dazu verschwand in Mamas Portemonnaie. Auf dem Regal im Kinderzimmer stehen seitdem zwei Einweckgläser: Jede Woche kommen 30 Euro zur freien Verfügung in das eine Glas; Ersparnisse werden in dem anderen gesammelt. Christoph soll lernen, mit Geld umzugehen. Meistens sind beide Gläser leer.

          Wann ist man erwachsen?

          „Mit 21, würde ich sagen“, sagt Christoph und nimmt ein zweites Stück von dem Zitronenkuchen, den er mit seinem Einzelfallhelfer gebacken hat, und weil sie den Guss aufpinselten, bevor sie die Backmischung aus der Form stürzten, klebt die Glasur an der Unterseite.

          „In ein paar Jahren“, sagt Christophs Mutter und blickt so versonnen auf ihren Jüngsten, als gäbe es nicht ständig Streit. „Er ist auf dem Stand wie ein 15-jähriger Teenager. Das richtige Erwachsensein – das kommt erst noch.“

          Wenn er keinen Bock hat, stellt er auf Durchzug

          Ein wolkenverhangener Nachmittag im Frühling, Mutter und Sohn sitzen nebeneinander auf dem krümeligen Sofa, auf dem die 58-Jährige nachts schläft, weil die Wohnung nur zwei Zimmer hat und Christoph schon das kleinere mit dem Wäscheständer teilt. Sie: eine große, schwere Frau mit schwarz gefärbter Mähne, die mit jedem Brief vom Jobcenter kämpft. Er: ein Halbstarker mit speckiger Brille, einer Vorliebe für Flecktarnmuster und alterstypischer Problemhaut. Seine Kumpel schätzen seine große Klappe. Wenn er keinen Bock hat, stellt Christoph auf Durchzug. Oder er wird aggressiv. Sein Vater, der Trinker, hat ihm mal einen Boxsack geschenkt. Aber davon, sagt Christoph, sei es eigentlich nur schlimmer geworden.

          „Komm her, mein Guter“, hat die Mutter gesagt, mit der Hand neben sich aufs Polster gepatscht und Christoph einen saftigen Kuss auf die Wange gedrückt. Seit den Monaten im Brutkasten, seit ihr Baby auf einem Krankentransport wiederbelebt werden musste und überhaupt seit diesem quälerischen ersten halben Jahr in ständiger Angst um sein Leben, ist Christoph ihr „Ein und Alles“. Für den Sohn mit dem Herzfehler und der Behinderung hat sie ihren Job als Küchenkraft aufgegeben. Seit der Scheidung lebt sie von Hartz IV. Sie werde kein Problem damit haben, ihren Jungen ziehen zu lassen, eines Tages, sagt sie. Aber wenn Christoph sich in den Boden stemmt, um sie mit ihrer schlimmen Hüfte aus einer unbequemen Position hochzuziehen, stöhnt sie: „Was mache ich denn, wenn ich meine Stütze nicht mehr habe?“

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