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Warum reisen Hipster plötzlich ins alte Baden-Baden?

Die Kurstadt als Sehnsuchtsort für die jüngere Bourgeoisie – die „New York Times“ und „Monocle“ lieben es .

25.01.2018
Text: RALF NIEMCZYK
Fotos: MICHELLE MANTEL

Purpurfarbene Sitzecken, glitzernde Deckenleuchten, junge Damen in dekolletierten Cocktailkleidern spielen „Studio 54“. Der „Bernstein Club“ in Baden-Baden beschwört mit Retro-Flair die langen Nächte der Disco-Ära. Hashtags wie #sexy, #elegant oder #weekend sollen dabei die Generation Instagram bedienen. Nicht unbedingt Schlagworte, die man ausgerechnet mit einem Kurhaus in diesem Ort verbindet. Und doch verspricht das weltberühmte Casino, das samt Nachtclub im Nebenflügel residiert, auf seiner Website: „Living the Good Life“. Die kleinste Weltstadt der Welt – so die selbstbewusste Selbsteinschätzung der 55.000-Einwohner-Gemeinde – erfindet sich gerade neu, wie auch schon die „New York Times“ bei einem ausgedehnten Rundgang anerkennend festgestellt hat. Wenn zudem das Londoner Globetrotter-Zentralorgan „Monocle“ das neuerdings beswingte Kulturklima anpreist, darf man einen erstaunlichen Wandel unterstellen: eine Häutung in Richtung Zukunft für die finanzstarke jüngere Bourgeoisie.

Eine Geschichte aus „Frankfurter Allgemeine Quarterly“, dem neuen Magazin der F.A.Z.

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Jahrzehntelang dominierte das Image vom leicht muffigen Edelkurbetrieb, in dem reiche Rollator-Omas auf aufgebrezelte Neureiche aus Moskau trafen. Dazu passten die ehrwürdigen Grandhotels nebst Privatkliniken entlang der zentralen Edelmeile Lichtentaler Allee. Angemessen behäbiges Entertainment boten die ascot-fidele Rennwoche im nahen Iffezheim oder das jährliche Oldtimer-Meeting. Das Geschäft lief immer recht ordentlich, doch besonders zukunftsträchtig wirkte der leicht angestaubte Charme nicht. Die spürbare Delle im Russlandgeschäft (EU-Embargo! Putin-Patriotismus!) sorgte zusätzlich für ein grundsätzliches Umdenken. Der Sehnsuchtsort von Gogol und Turgenjew musste plötzlich nach vorne schauen. Ein „Quiet Storm“, wie Soul-Legende Smokey Robison es in einem Song formulierte, musste her. Generationswechsel de Luxe.

Ein Hauch von Neukölln: Kuckucksuhren im Hotel „Roomers“
Betuchte Traditionsgäste sollen nicht verschreckt werden.
Kunst und Kultur sind gesetzt.

Diese leise, aber heftige Brise folgt einer Doppelstrategie: erstens betuchte Traditionsgäste nicht verschrecken. Zweitens den Dialog mit der Jugend aufnehmen; was in Baden-Badener Kategorien stilvolle Wesen zwischen 33 und 63 bedeutet. Kunst und Kultur sind gesetzt, dazu kommt die vielfach postulierte Sexyness eines neukonservativen Lebensstils, der sich seit längerer Zeit überall in der Republik zu verbreiten scheint. Auch Pop in seiner aktuellen Spielart Normcore, also Biederkeit mit Hornbrillen und Pollundern, kann da nicht schaden. Die Vision: ein Hauch von hedonistischer Ibiza-Moderne unter knorrigen Kastanien.


„An den Tischen im Casino sitzen Youngster neben allerlei Middleage-Typen. Manche wirken, als wären sie geradewegs der Frankfurter Techno-Szene entwachsen.“
MAX MUSTERMENSCH

Die Jüngeren sind dafür tatsächlich empfänglich. Im Casino sieht man im stuckverzierten Spieltischsaal neuerdings Hipster-Bärte in Tweetsakkos beim Roulette auf die Transversale Simple setzen. Der Dresscode mit Sakko für den Herrn wird heute gerne freiwillig übererfüllt, da gab es auch mal andere Zeiten. Das neue Hotel „Roomers“ am Ortseingang, eröffnet im letzten Herbst, verabschiedet sich wiederum komplett von solchen Standards. Schon die ockerfarbige Lobby mit Sitzlandschaften statt Portier am Empfangstresen ist ein Bruch mit der üblichen Edel-Hotellerie. „Wir haben unser zweites Haus nach Frankfurt ganz bewusst hier eröffnet. Die Eckdaten von Baden-Baden stimmen. Die Stadt ist reif für ein Metropolen-Konzept“, sagt Hotelmanager Peter M. Maiwurm. Mit DJ-Kanzel, Kuckucksuhrensammlung, Dachbar mit Waldblick und dem ambitionierten Pan-Asia-Restaurant „Moriki“ orientiert man sich an Vorbildern aus der großen, weiten Designerwelt. Während des SWR-Festivals New Pop, das US-Popstar Anastasia zum launigen „Pop-Talk“ auf die Kurpromenade bat, schwirrten junge Musiker mit Gitarrenkoffern und Tannenzäpfle-Bierflaschen durch die Sepia-Landschaft. Das ist für das traditionelle Baden-Baden noch immer etwas shocking, die „Roomers“-Leute dagegen wähnen sich auf dem richtigen Weg. Urban sophisticated halt.

Beliebt: Pop-up-Galerie bei den Maßschuhmachern Martin Stoya und Matthias Vickermann
Den Schuh ziehen sich an: Bemüht um städtische Interaktion im Zeichen der Kunst
Neuer Schwung: Henning Schaper, seit 2017 Leiter des Museums Frieder Burda

Die Idee ist ansteckend. Schon wird von einem „kleinen Bauboom“ gesprochen. Schließlich wird einige hundert Meter stadteinwärts vom „Roomers“ der Ende 2014 geschlossene „Europäische Hof“ mit Schweizer Geldern von Grund auf saniert. Investor Martin Buchli steckt rund 60 Millionen Euro in sein Projekt am Flussufer. Der ehemalige Luisenflügel ist abgebrochen, vom Rest stehen nur noch Grundmauern. Die Bausubstanz des 1840 als „Hotel de l’Europe“ eröffneten Gebäudes war derart marode, dass die längst geplante Wiedereröffnung nun fürs Frühjahr 2019 vorgesehen ist. Star-Innenarchitekt Matteo Thun übernimmt die Ausgestaltung, ein weiteres Argument für neue Roaring Twenties, von denen hier einige träumen.


„Hier kann künftig noch einiges gehen“
MAX MUSTERMENSCH

Ein Hauch von Chanel No. 5 weht durch das „Rizzi“, einem Bar- und Restaurant-Treff im Herzen der Innenstadt. Wo Rouladenküche innovativ interpretiert wird, ältere Damen und Jeunesse dorée ihre verlängerte Mittagspause verbringen, nehmen der Kölner Galerist Sven Ahrend und der französische Künstler Vincent Tavenne gerne ein Frischgezapftes am Tresen. Gemeinsam mit dem Maßschuhmacher Matthias Vickermann kuratiert Ahrend seit 2016 eine Pop-up-Galerie im zweiten Stockwerk der Schusterwerkstatt. Eine neue Initiative, die sich ebenso wie das Burda-Museum um städtische Interaktion im Zeichen der Kunst bemüht.

Das „Rizzi“ wo Rouladenküche innovativ interpretiert wird, ältere Damen und Jeunesse dorée ihre verlängerte Mittagspause verbringen.

Ahrend und Vickermann konfrontieren Stadtszene und regionale Sammler mit Nachwuchskünstlern, die sonst nur in Metropolen zu sehen sind. Keine leichte Aufgabe in der Provinz. Die beiden sind überzeugt, dass sich die Strahlkraft von Baden-Baden modernisieren lässt. Schließlich haben sie den Blick von außen. Vickermann, der Frankfurter Banker zu seinem Kundenkreis zählt, stammt aus dem Ruhrgebiet. Der Schwabe Ahrend mit Dienstsitz Köln kennt wiederum die Wanderungsbewegungen der Kunstszene seit den Achtzigern. „Hier kann künftig noch einiges gehen“, sagt er: „An den Tischen im Casino sitzen Youngster neben allerlei Middleage-Typen. Manche wirken, als wären sie geradewegs der Frankfurter Techno-Szene entwachsen.“ Ein Fluchtort also vielleicht für die ruhigere Lebensphase nach durchtanzten Nächten in Sven Väths „Cocoon Club“? Noch so eine überraschende Perspektive für Baden-Baden 2020.

Die Eckdaten von Baden-Baden stimmen. Die Stadt ist reif für ein Metropolen-Konzept.

Das sind gute Voraussetzungen für einen Imagewandel hin zum neuen Sehnsuchtsort für neobourgeiose Vertreter der jüngeren Generationen, die sich ja auch immer gerne mit Kunst locken lassen. Kontinuierlich steigt die Zahl auswärtiger Afficionados, die etwa zu den „Lightboxes“ von Rodney Graham im Burda-Museum oder in die benachbarte Staatliche Kunsthalle pilgern. Der ehemalige Wolfsburger Museumsmanager Henning Schaper, der das Museum Frieder Burda heute leitet, sieht „ein gewachsenes Empfinden für die Region, die im Bereich der bildenden Kunst bis hinunter nach Basel und hinein ins Elsass reicht“. Zu Schapers Modernisierungsstrategie gehört auch die Einbindung der Baden-Badener Stadtgesellschaft. Kein abgehobenes Raumschiff der Kunstschickeria also, sondern ein Wechselspiel: Avantgarde-Positionen als Aufmischer der örtlichen Beschaulichkeit. Prognose: Das könnte klappen.

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Quelle: F.A.Q.

Veröffentlicht: 24.01.2018 21:21 Uhr