Vätergruppe für Deutsch-Türken : Raus aus der Macho-Ecke
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Gemeinsam gegen Gewalt: Der Psychologe Kazim Erdogan (Mitte links) und Ethem Zeybek Bild: Pein, Andreas
In der ersten Vätergruppe für Deutsch-Türken sprechen Männer ganz offen - über Ehrenmorde und Kinderbetreuung.
Kemal ist kein Kind der Liebe. Auch keins der Nähe und der Wärme. Für Kemal war kein Platz. Mit den zwei Geschwistern war die Berliner Wohnung seiner Eltern voll. Sie ließen Kemal bei den Großeltern in der Türkei zurück, drei Wochen alt. Irgendwann wollten sie ihn nachholen – aber aus „irgendwann“ wurden sieben Jahre. Kemal nannte seine Oma „Mama“, seinen Opa fortan „Papa“. Als die Großmutter bei einem ihrer Telefonate nach Deutschland der Mutter erzählte, dass ihr Sohn eine Milchvergiftung habe, sagte sie nur: „Ist doch nicht so schlimm, wenn das Kind stirbt.“ Aber davon erfuhr Kemal erst viel später.
Eines Tages standen eine Frau und ein Mann vor der Tür der Großeltern, sie hatten einen Koffer mit vielen Geschenken dabei. Kemal bekam ein elektrisches Auto mit Fernbedienung und einen bellenden Plüschhund. Die Frau und der Mann sprachen von Deutschland und schwärmten dem Jungen von den breiten Straßen vor, von exotischen Früchten. Kemal stieg in das Auto der Unbekannten. Er fragte die Frau: „Kommt meine Mutter auch mit?“, und die Frau antwortete: „Ja, die kommt auch mit.“
Für ein besseres Zusammenleben
Als Kemal sah, wie seine Großmutter im Rückspiegel immer kleiner wurde, wehrte er sich mit Händen und Füßen. Er wollte zurück. Die unbekannte Frau ließ ihn nicht. 15 Stunden dauerte die Fahrt nach Berlin. Da waren die Häuser und der Himmel grau. An den Balkonen hingen Satellitenschüsseln. Alles war Kemal fremd, die Straßen, Gerüche, Geschwister. Auch die Eltern. Richtig kennenlernen konnte er sie nie. „Eigentlich kenne ich sie bis heute nicht“, sagt Kemal viele Jahre später. Er sagt es so beiläufig, dass es nur ernst gemeint sein kann. Früher machte ihn diese Einsicht wütend, heute nur noch traurig.
Früher schlug er um sich, mit Fäusten, Worten, schlechten Noten. Heute spricht Kemal über seine Ängste, und manchmal weint er sogar dabei. Hier hat Kemal zum ersten Mal geweint, ein altes Haus in Berlin-Neukölln. Der Raum im Erdgeschoss ist nur so groß wie ein Schuhkarton, aber die Geschichten in ihm erzählen von ganzen Generationen. 20 Männer, mit Schnauzbart oder ohne, in Sandalen oder Malerschuhen, alle mit einem starken türkischen Tee vor sich auf dem Tisch. Es ist warm, die Männer diskutieren sich heiß über Gewalt an Frauen in der Türkei und in Deutschland.
Deutschlands erste Väter- und Männergruppe für Deutsch-Türken gibt es seit 2007, Kemal kam vor fünf Jahren zum ersten Mal. Er hatte in einem Zeitungsartikel von Kazim Erdogan gelesen, dem Gründer der Gruppe. Auch von den vielen anderen Projekten, die dieser Mann noch anschob für ein besseres Zusammenleben ein Neukölln. Von Aufbruch und Neustart. Aber erst einmal setzte sich Kazim Erdogan Kemal gegenüber, sagte nichts und hörte zu. Kemal erzählte, wie er trotz aller Unwägbarkeiten seinen Schulabschluss machte und als Kabeljungwerker arbeitete. Er verdiente gutes Geld. Der Vater schlug ihn selten, aber wenn, dann hat Kemal es wochenlang gespürt. Ein richtiger Mann solle er endlich werden, schimpfte der Vater, und zu einem richtigen Mann gehöre eine türkische Frau.