Unbekannte Halbgeschwister : Warum hast du mir das verschwiegen?
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Für viele ist das Auftauchen einer Halbschwester oder eines Halbbruders ein Schock. Bild: Isabel Klett
Wenn erwachsene Menschen plötzlich erfahren, dass sie Halbgeschwister haben, gerät ihre Welt aus den Fugen. Wie soll man auf das neue Familienmitglied reagieren?
Ian und David aus England sind Brüder, doch sie haben lange nichts voneinander gewusst. Ian war fünfzig Jahre alt, als er erfuhr, dass seine Eltern sechs Jahre vor seiner Geburt einen Sohn bekommen und zur Adoption freigegeben hatten, weil die Mutter damals mit einem anderen verheiratet war. Nach dessen Tod heiratete das Liebespaar. Ian wurde geboren, doch ihren ersten Sohn erwähnten sie nie. Dieser, von seinen Adoptiveltern auf den Namen David getauft, spürte irgendwann seine leibliche Mutter und so auch seinen Bruder Ian auf. Das alles sei „eine große Überraschung“ gewesen, die an eine „Shakespeare-Komödie“ erinnere, sagte Ian später. Obwohl er selbst Schriftsteller sei, nämlich der vielfach ausgezeichnete Romancier Ian McEwan, werde er nichts darüber schreiben – auch wenn er sich freue, einen Bruder zu haben. Doch es sei dessen Geschichte, David müsse sie erzählen.
Für Ian McEwan sollte also der bislang unbekannte Bruder im Mittelpunkt einer solchen Geschichte stehen, als wäre er, der mit den eigenen Eltern aufwachsen durfte, nicht wirklich betroffen. Dem widerspricht allerdings seine Bemerkung, das Wissen um den Bruder habe eine „schmerzvolle Neukalibrierung der Familiengeschichte“ erforderlich gemacht. Das klingt weniger nach Komödie als nach Drama: Die Enthüllung, dass Vater oder Mutter (oder gar beide zusammen) ein vertuschtes Kind haben, bringt die Familiengeschichte aus dem Gleichgewicht, die dann neu kalibriert werden muss – und zwar nicht von den Eltern oder dem verheimlichten Kind, sondern von den überrumpelten, oft schon erwachsenen Kindern dieser Familie. Die neuen Tatsachen aus dem Leben der älteren Generation werfen Fragen nach Ehrlichkeit und Vertrauen auf, erzwingen einen neuen Blick auf die Eltern und auch auf die eigene Stellung im Gefüge der Familie. Das kann in Alltag und Psyche zu erheblichen Turbulenzen führen. Jene, die vermeintlich im Schatten der Ereignisse stehen, weil sie „nur“ die Halbgeschwister sind, müssen in Wahrheit die größte Anpassung leisten.
Geheimnisse der Eltern
Familiengeheimnisse üben eine große Faszination aus. Sie sind ein uralter, immer aktueller Topos, ohne sie wären nicht nur Hollywood und die Schreiber von Fernsehschmonzetten, sondern auch viele renommierte Schriftsteller verloren. Ödipus und Luke Skywalker verbindet über einige tausend Jahre hinweg, dass sie ihren wahren Vater nicht kennen, Luke wusste zudem nichts von seiner Zwillingsschwester Leia Organa.
Die meisten Erwachsenen glauben, alles über ihre Eltern und deren Leben zu wissen, während diese nicht alles über sie, ihre Kinder, wissen. Diese Annahme erweist sich dann als trügerisch, wenn aus dem Leben des Vaters oder der Mutter etwas ans Licht kommt, das von großer Tragweite ist: eine Verurteilung, ein schwerer Unfall, ein längerer Auslandsaufenthalt, eine Ehe – und eben ein Kind. Der erste Gedanke ist oft: Warum wusste ich das nicht? Warum wurde mir das verschwiegen? Dabei könnte man auch die Frage stellen, ob Kinder überhaupt Anspruch darauf haben, alles über das Leben ihrer Eltern zu erfahren. Haben Eltern ein Recht auf Intimsphäre? Gibt es Dinge, die sie sagen müssen? Wer bestimmt, was nur ihnen gehören darf? Und wenn man mehr weiß, kann dies womöglich schlimme Folgen haben?