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Verlust eines lieben Menschen : Nach zwei Wochen Trauer ist aber bitte Schluss!

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Die Trauerzeit soll heutzutage genauso schnell vergehen wie die Haltbarkeit von Grablicht und Blumen. Bild: dpa

Der Schmerz über den Tod eines geliebten Menschen hat im öffentlichen Leben kaum noch Platz. Getrauert werden soll allein im Privaten, möglichst still und bloß nicht zu lang – das erwartet mittlerweile gar die Medizin.

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          Manches Grablicht, das in diesen Novembertagen auf dem Friedhof lebendig flackert, tut nur so. Statt einer Flamme brennt darin eine LED-Leuchte mit „realistischem Kerzenschein“. Die alten Kerzen im roten Plastikbecher schaffen es gerade über ein Gedenkwochenende, die künstliche Konkurrenz hält mit ihrer Batterie 200 Tage durch. Mehr als ein halbes Jahr. Und damit deutlich länger, als ein Mensch trauern darf, ohne als seelisch krank zu gelten. Zumindest, wenn es nach dem DSM-5 geht, der neuen Auflage des Diagnosemanuals für psychische Störungen der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung. Anfang Dezember erscheint die deutsche Übersetzung davon, in der ebenfalls stehen wird, dass zwei Wochen nach dem Verlust eines geliebten Menschen Symptome wie Niedergeschlagenheit, Appetitverlust, Gewichtsabnahme, Antriebslosigkeit, sozialer Rückzug und Schlafstörungen als Depression diagnostiziert werden können.

          Das DSM-3 von 1980 hatte für Trauer noch ein ganzes Jahr zugestanden, das DSM-4 von 2000 schon nur noch zwei Monate. Und jetzt also vierzehn Tage.

          Beinahe hätte das DSM-5 gar nicht mehr zwischen natürlicher Trauer und Depression unterschieden. „In der ursprünglichen Fassung sollte jede ausgeprägtere Trauer Depression sein“, sagt Professor Wolfgang Maier, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Doch da der Protest gegen diese knappe zeitliche Definition zu groß wurde, sei nachträglich ins DSM-5 eine Anmerkung hineingeschrieben und eine Fußnote zum Umgang mit Trauer angeklebt worden, sagt Maier. „Die Autoren lassen es nun offen, eine feste Grenze zu setzen zwischen Trauer und Depression.“ Das Problem dabei: Wenn der Arzt diese Ergänzungen im Einzelfall nicht mit Sorgfalt anwende, könne es zu einer Überdiagnose kommen, sagt Maier. Nicht nur aus den Vereinigten Staaten kommt Kritik, dass Symptome von Trauer dann zu schnell mit Medikamenten wie Antidepressiva behandelt werden könnten.

          „Trauer ist sehr persönlich und individuell“

          „Trauer ist sehr persönlich und individuell, folglich dauert sie bei jedem Menschen unterschiedlich lang“, sagt Maier, „aber erst, wenn die Verarbeitung des Verlustes, dass ein Mensch gestorben ist, nicht glückt, es zu einer langfristigen Trauerreaktion kommt und jemand seinen Alltag etwa auch nach einem Jahr nicht bewältigen kann, wird daraus eine Erkrankung.“ Zehn bis 15 Prozent aller Trauernden sind von dieser „prolongierten“ oder „pathologischen“ Trauer betroffen. Es heißt, die Verfasser des DSM-5 konnten sich aber nicht darauf verständigen, diese spezielle Form aufzunehmen. Und so kommt sie im DSM-5 gar nicht vor. Anders als im ICD, einem weiteren Diagnosemanual, dessen elfte Auflage die Weltgesundheitsorganisation 2017 herausgeben will. Darin wird vermutlich die „pathologische Trauer“ benannt sein. Das ICD wird in Deutschland vor allem von niedergelassenen Ärzten genutzt, das DSM in Kliniken.

          Doch vielleicht beschreibt – allen wissenschaftlichen Diskussionen und fachlichen Definitionen zum Trotz – das DSM-5 eigentlich nur die gesellschaftliche Entwicklung. Denn wie „normal“ ist Trauer tatsächlich heute noch? Wie viel Raum geben wir dieser tiefsten aller Verlusterfahrungen noch, dem Gefühlschaos aus Traurigkeit, Wut, Angst, manchmal auch Schuld? „Nach 14 Tagen jedenfalls hat man den Verlust noch gar nicht ermessen“, sagt die Schweizer Psychoanalytikerin und Psychologieprofessorin Verena Kast, „da ist man noch wie vor den Kopf geschlagen.“

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