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Tourette-Syndrom : Ausgetickt

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So äußert sich das Tourette-Syndrom: Tics wie Blinzeln oder Zungerausstrecken, Grimassen schneiden, Wörter wiederholen, grunzen, quieken, beleidigen. Bild: F.A.S.

Fast dreißig Jahre hatte das Tourette-Syndrom sie fest im Griff. Alle zwei Minuten litt sie unter unkontrollierbaren Bewegungen und Ausrufen. Nichts half wirklich. Dann ließ sich Daniela Merck am Gehirn operieren.

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          Wenn Daniela Merck von diesem Tag im Jahr 2008 erzählt, spricht sie von sich wie von einem Elektronik-Laden; von all diesen kleinen Drähten, die aus ihrem Kopf standen, den Akkus, Steckverbindungen und Volt-Zahlen. Fünf Jahre ist es bald her, dass Daniela Merck am Kopf operiert wurde. Ihre langen blonden Haare hatte man im oberen Kopfbereich geschoren, damit sie die Chirurgen nicht störten. Aber was bedeutet das schon, wenn man gerade aus der Narkose aufgewacht ist und die nächste Operation bereits ansteht.

          Eine Woche nach dem ersten Eingriff wurden die Elektroden aus Mercks Hirn mit einem in Bauchnabelhöhe unter der Bauchdecke implantierten Schrittmacher verbunden, der die Größe einer Zigarettenschachtel hat. Ob das kleine Gerät, das Mercks Gehirn seither elektrische Impulse sendet, jemals helfen würde, wusste die Tourette-Patientin zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Genauso wenig wie ihr Arzt am Klinikum München-Großhadern, der Neurochirurg Jan Mehrkens.

          Behandlung mit der „tiefen Hirnstimulation“

          Doch nach einem Leben, das bis zu diesem Zeitpunkt von Tics, unkontrollierten Ausrufen und Bewegungen, von Leid und Selbstverletzungen begleitet war, setzte Merck (die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will) große Hoffnung auf den Schrittmacher.

          Sie gehört zu den wenigen Tourette-Betroffenen, die bislang mit der „tiefen Hirnstimulation“ behandelt werden. Eigentlich eine Therapie, die bei Menschen angewendet wird, die unter Parkinson oder multipler Sklerose leiden; Hunderte solcher OPs werden jährlich in Deutschland bei solchen Patienten durchgeführt. Für Tourette-Betroffene stehen Wissenschaft und Praxis bei dem Verfahren hingegen noch am Anfang.

          “Seit 1999, seitdem man erstmals einem Betroffenen mit Tics einen Schrittmacher implantiert hat, wurden weltweit nur 100 Fälle publiziert“, sagt Mehrkens. Man hört ihm die Enttäuschung darüber an, dass die Forschung nur schleppend vorangeht. Acht Patienten haben der Neurochirurg und sein Team in den vergangenen sieben Jahren betreut. Damit ist das Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) eine der führenden Einrichtungen in Deutschland, die schwere Tourette-Fälle behandelt, bei denen keine andere Therapie langfristigen Erfolg brachte.

          Bis zu 550 000 Tourette-Kranke in Deutschland

          Mehr als fünf Millionen Deutsche haben laut der Deutschen Gesellschaft für Neurologie irgendeine Form von Tics. Die meisten davon verschwinden von selbst, die Betroffenen brauchen keine Behandlung. Anders bei chronischen Formen des Gilles-de-la-Tourette-Syndroms, einer nach einem französischen Arzt benannten Erkrankung, die sich durch heftige unkontrollierbare Bewegungen, Ausrufe und Geräusche auszeichnet. Obwohl die Symptome bereits 1885 wissenschaftlich beschrieben wurden, war die Krankheit unter Ärzten bis in die 1990er Jahre weitgehend unbekannt. Die Schätzungen, wie viele Menschen in Deutschland erkrankt sind, reichen von 40 000 bis 550 000, viele davon ohne offizielle Diagnose.

          Merck ist heute 33 Jahre alt. Seit 15 Jahren weiß sie von ihrer Erkrankung. Als ihre Eltern vor Jahrzehnten zum Kinderarzt gingen, weil das Mädchen so oft mit den Schultern zuckte und die Nase rümpfte, riet dieser, die Marotten nicht weiter zu beachten. „Das vergeht schon wieder.“

          Bei anderen Kindern vergingen die Macken. Nicht bei Daniela Merck.

          Merck verletzte sich, obwohl sie es nicht wollte

          Tourette an sich tut nicht weh, sagt sie, zumindest nicht körperlich. „Es fühlt sich an wie ein Kribbeln in der Bauchgegend, das immer heftiger wird, wie vorm Niesen. Ich merke, dass da was kommt, was sich dann plötzlich entladen muss.“ Merck ist eine attraktive Frau, der Typ, nach dem sich Männer herumdrehen: blonde gestufte Haare, exakter Lidstrich und Mascara, hochhackige Schuhe und schwarze Lackhose. Vor einigen Wochen haben sie und ihr Mann das zweite Kind bekommen, Maximilian wurde zweieinhalb Jahre nach seinem Bruder David geboren.

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