Reise in die tiefste Sowjetunion : Ihre Freiheit lag im Osten
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Berge, so weit das Auge reicht: Die Gipfel der DDR reichten ihnen nicht mehr; es zog sie auf den Pik Energie in Tadschikistan - hier eine Aufnahme vom Aufstieg Bild: Privat
Unerkannt im Freundesland: Kurz vor der Wende 1989 machen sich junge Männer aus Sachsen auf zu einer verbotenen Reise. Nicht in den Westen, sondern tief in die Sowjetunion. Nach fast 25 Jahren treffen sie sich wieder.
Michael Herold tritt aus dem Gemeindehaus, drei, vier Schritte auf den Schotterweg hinaus, der sich mit Regen vollgesogen hat, und wartet. Der Blick im markanten Gesicht des 47-Jährigen sucht einen Ruhepunkt, die Stirn liegt in Falten, er ist unruhig. Denn gleich soll um die Ecke der Lutherkirche Radebeul der Freund biegen, den er fast ein Vierteljahrhundert nicht gesehen hat. Einer von vieren, mit denen er im Wendejahr keine 35 Kilometer von hier zu einer verbotenen Reise aufgebrochen war. Nicht in den Westen, wohin sich Tausende im Sommer 1989 abgesetzt haben, sondern in den Osten: tief in die Sowjetunion, bis zum Pik Energie. Die Reise ihres Lebens.
Irgendwann hatten sie alle Berge durch. Im sächsischen Freiberg waren sie mit ihnen aufgewachsen. Erzgebirge, Sächsische Schweiz, Riesengebirge, Hohe Tatra, Karpaten - ein Berggebiet nach dem anderen nahmen sie sich Jahr für Jahr vor. „Und ’88 war Schluss“, erzählt Nick Reimer, der heute als Umweltjournalist in Berlin arbeitet. „Die Welt war zu Ende.“
Schließlich war es in der DDR nicht nur verboten, in den Westen zu reisen, sondern auch in den Osten. In die Sowjetunion, wo die ersehnten Gebirgsriesen lagen, durfte man nur auf Einladung oder als Mitglied einer Reisegruppe. Aber als Einzelne unbeaufsichtigt zu reisen - das war im Sozialismus nicht vorgesehen.
Ein Plan wird geboren
Sie waren eine Gruppe von fünf Bergverrückten, alle Anfang Zwanzig, die sich sehnten nach der Weite und den richtigen Bergen. „Wir wollten den Berg, den es nicht gab“, erzählt Reimer. Damals fiel ihm ein Buch mit Gebirgsfotographie in die Hände, nicht die Alpen - aber Hochgebirge: der Kaukasus mit Gipfeln über 5000 Metern. Was Freiheit ist, wusste man damals gar nicht, erzählt einer von ihnen heute, aber beim Blick auf die Gebirgswände in dem Bildband konnten sie es erahnen.
Die Reise bleibt ein Gedankenspiel. Sie erscheint zu riskant ohne Erfahrung im Hochgebirge, Ausrüstung und Papiere. Was, wenn der Staat ihnen als „Republikflüchtlingen“ oder „Spionen“ das Studium verwehrt und Reisen verbietet? Also erduldet die Clique die „Rotlichtbestrahlung“ in den Hörsälen und begnügt sich mit den Gipfeln, die sie kennt.
Eines Abends aber, im Fagaras-Gebirge in Siebenbürgen, hört Reimer jemanden hinter sich: „Kann ich mich ans Lagerfeuer setzen?“ Ein Dresdner, ein paar Jahre älter als Reimer. Er erzählt von seinen Reisen ins Tienschan- und Altai-Gebirge. „Da gibt’s so Wege. Ich schick’ euch mal was.“ Er meint: handgezeichnete Karten, die in der Szene Kultstatus haben. Und er erzählt von einem Schlupfloch, um Osteuropa zu verlassen: dem Transitvisum. Das gilt zwei Tage und erlaubt, die Sowjetunion zu passieren. Aber ist man erst mal dort. . .
Was die schaffen, schaffen wir auch, denken sich die Freunde.
Nervöses Wiedersehen
Um die Ecke der Lutherkirche biegt ein Mann mit blonden, halblangen Haaren, rosa Hemd und Tuch um den Hals. Er ruft: „Der Michael!“ Umarmung, Grinsen. „25 Jahre!“, sagt der eine. „Hast dich gar nicht verändert, ein paar graue Haare“, der andere.
Im Gemeindehaus der Lutherkirche, wo Herold als Kirchenmitglied ein Zimmer für den Diaabend gemietet hat, wartet mit Andreas Friedel der Dritte aus der Gruppe von einst. Kariertes Hemd, randlose Brille, Kurzhaarschnitt. Wieder Umarmung, nervöses Lächeln. Auch den Vierten der damaligen fünf hatte Reimer versucht aufzutreiben, vergeblich. Nach dem Fünften musste er nicht mehr suchen, das wusste er.
Erstes Abtasten: Was macht die Schwester, der Bruder, die Eltern? Geht ihr noch in die Berge? Als das Licht ausgeknipst wird und der Diaprojektor einen Lichttrichter durchs Dunkel wirft, sind die drei sofort wieder im August 1989.
„Das ist. . .“, versucht Friedel einen jungen Mann im rosa T-Shirt, mit Bart und freundlichem Gesicht zuzuordnen.
„Das ist Frank“, sagt Reimer ernst. Für einen Moment surrt nur der Projektor.
„Das ist Frank“, wiederholt Herold.