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Demonstrationen und Proteste : Chemnitz, was soll ich nur halten von dir?

Die Bundespolizei steht in Chemnitz Samstag vor einer Woche vor einer Mauer aus Transparenten. Dahinter befinden sich hundert Demonstranten. Bild: Mai, Jana

Fünf Tage ist unsere Reporterin durch die Stadt gestreift, von der sich alle längst ihr Bild gemacht haben. Vom Versuch, zwischen all diesen Bildern den Überblick zu bewahren.

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          In diesen Tagen gehe ich skeptisch durch Chemnitz. Es ist mein erster Besuch in der sächsischen Stadt, und es ist vermutlich genau so ein Besuch, wie ihn viele nicht wollen und der viele Chemnitzer traurig macht: Jetzt kommen sie alle wegen der Nazis. Journalisten, Politiker, Konzertbesucher. Und danach sind sie wieder weg. Und Chemnitz kennt man? Wegen der Nazis. „Nazi“ ist natürlich nicht ganz korrekt, eigentlich sind es Neonazis, Rechtsradikale, AfDler, Pegidisten, Sympathisanten, furchtbar besorgte Bürger und leider auch ganz normale Bürger.

          Johanna Dürrholz
          Redakteurin im Ressort „Deutschland und die Welt“.

          „Nazi“ ist ein Begriff, der in den letzten Jahren inflationär verwandt wurde für Rassisten, für Menschen, die sich fremdenfeindlich äußern, für Menschen, die den Islam verteufeln. Ein Begriff, der immer weiter aufweicht, verwischt. Ein Musiknazi ist beispielsweise jemand, der auf jeder Party gern die Spotify-Liste kontrollieren würde, der sich über Musik, die er persönlich nicht mag, beschwert und der ganz sicher nur mit einer Person zusammen sein würde, die den exakt gleichen oder zumindest in hohem Maße übereinstimmenden Musikgeschmack vorweist. Interessanterweise bezeichnet auch der historische Begriff „Nazi“ etwas Abwertendes, da man ihn in Österreich für eine törichte Person gebrauchte. Sonst war „Nazi“ eigentlich die Abkürzung von „Ignaz“. Und später dann die abgekürzte Form für „Nationalsozialist“. Wie verwerflich ist es jetzt, einen solchen mit jemandem zu vergleichen, der einen schlechten Musikgeschmack hat?

          Wie viel verrät die Kleidung, wie viel die Frisur?

          In diesen Tagen gehe ich durch Chemnitz und schaue jedem Menschen prüfend ins Gesicht. Bei Männern mit wenig oder gar keinem Haupthaar schaue ich genau hin, ebenso bei Männern mit auffälligen Tätowierungen, mit dunklen T-Shirts, auf denen in gotischen oder zumindest altertümlichen Lettern irgendwelche Sprüche, Bandnamen oder auch Kleidungsmarken stehen. Nazi oder nicht Nazi, frage ich mich. Ich gehe zum Mahnmal für den getöteten Daniel H.; dort, mitten in Chemnitz, sitzen Trauernde und solche, die nur vorgeben zu trauern, die glauben, den Tod ihres angeblichen Bekannten benutzen zu müssen. Und ich erwische mich dabei, dass ich mich frage, wer hier wirklich trauert. Als ob es für mich einen Unterschied machen würde. Oder für Daniel H.s Familie.

          Ich gehe durch Chemnitz und bin misstrauisch. Die Chemnitzer Luft ist diesig in diesen Tagen, die Chemnitzer gehen wenig ins Freie und wenn, dann sind sie beschäftigt. „Jetzt vergisst man Chemnitz so schnell nicht“, höre ich eine Frau sagen. Ob sie das gut findet? Wer ist hier wohl fremdenfeindlich, frage ich mich, wer ist hier AfD-Wähler? Wahrscheinlich saß ich hier in der Bahn schon neben jemandem, der mitgelaufen ist an dem Montag, als Menschen verfolgt und wegen ihrer Hautfarbe beleidigt wurden.

          Im Café neben mir sitzen drei Menschen, sie alle sind nachlässig gekleidet und sächseln stark. Der Mann hat eine Vollglatze und ein schwarzes T-Shirt, auf dem irgendwas von „Untergang“ steht. Die alte Frau, vielleicht seine Mutter, löffelt Joghurt und beschwert sich über das Wetter (das eigentlich schön ist). Bestimmt Nazis, schießt es mir durch den Kopf. Ich lausche weiter. Irgendwann sagt die andere Frau sehr bestimmt, wie gut sie das Konzert fand. „Wir sind mehr.“ Ich schäme mich sehr.

          Die Menschen reden von einem verändertem Stadtbild

          Von den 6000 Menschen auf der sogenannten Anti-Merkel-Demo waren nicht alle waschechte Neonazis. Warum aber geht man als Nicht-Neonazi gemeinsam mit Neonazis, die tatsächlich und wahrhaftig und ohne Scheu den Hitlergruß zeigen, die das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte verherrlichen, durch die Straßen?

          In diesen Tagen spreche ich mit Menschen, die unverhohlen fremdenfeindlich sind, offen ihren Vorurteilen Luft machen. Die sagen: „Ich habe überhaupt nichts gegen Ausländer, aber die sollen nicht überall nur rumlungern.“ Die sagen: „Chemnitz hat sich verändert.“ Dass Chemnitz sich verändert hat, sagen allerdings so viele, dass ich es glaube. Von den Gruppen junger Männer migrantischen Aussehens erzählen auch alle. Wenn das alle erzählen, die, die am Montag nach Daniel H.s Tod demonstriert haben, und die, die das gut fanden, genauso wie die, die niemals mitgelaufen wären, dann muss da doch was dran sein, denke ich. Wenn es stimmt, dass sich das Stadtbild so verändert hat, wie alle sagen, und dass deswegen Bars und Clubs zumachen, dann muss das doch irgendetwas bedeuten, denke ich.

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