Musikband Blind & Lame : Wir sind nicht die fröhlichen Behinderten
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Die Band Blind & Lame: Mutter (links) und Tochter beim Musizieren auf dem Bauwagenplatz. Bild: Andreas Müller
Sie sind Mutter und Tochter und zusammen die Musikband Blind & Lame. Dabei ist der Name des Duos nicht nur Jux. Er beschreibt die Behinderungen, mit denen die beiden Frauen leben.
Kika Wilke drückt auf einem Gerät herum, kleiner als ein Smartphone. „Ordner Ideen“, sagt eine Computerstimme. Kika drückt noch mal, Gitarrenakkorde sind zu hören, im Hintergrund ihre Stimme. Kika drückt wieder, eine andere Melodie ertönt. „Meine Notizen“, sagt die Frau mit dem hellblonden Pony und grinst. Die Fünfundfünfzigjährige sitzt vor einem Wohnwagen im Münchner Norden, um sie herum Bäume, ein selbstgebauter Schuppen, drei weitere Wohnmobile. Neben ihr, mit Sonnenbrille, ihre erwachsene Tochter Lucy. Die beiden klicken sich durch Kikas akustische Notizen, bis Lucy unterbricht. „Warte, das mag ich!“ Kika winkt ab, aber Lucy besteht darauf. Irgendwann hat sie ihre Mutter so weit: Sie fangen an, einen Nonsens-Text auf die Melodie zu singen, bis sie lachen müssen. „Da könnte man was daraus machen“, sagt Kika.
Mutter und Tochter sind Musikerinnen, sogar Bandkolleginnen. Blind&Lame, blind und lahm, heißt das Duo, das sie vor mehr als einem Jahr gegründet haben. Der Bandname ist für die Frauen nicht nur Jux. Er beschreibt die Behinderungen, mit denen sie leben. Kika ist vor etwa zehn Jahren erblindet, eine Netzhautdegeneration nahm ihr Stück für Stück die Sehkraft. Tochter Lucy kam bereits mit einer Muskelerkrankung zur Welt. Spinale Muskelatrophie – so nennen Mediziner das, woran Lucy leidet. Dabei schwinden die Nervenzellen im Rückenmark, die die Körperbewegungen steuern. Lucys Muskeln sind schwach, bilden sich zurück. Von klein auf konnte sie sich nur mit dem Rollstuhl fortbewegen.
„Wir sind ganz einfach Musikerinnen, die eine Behinderung haben“
„Das ist eben so, die Behinderungen haben wir uns nicht ausgesucht“, sagt Kika. In ihrer Stimme schwingt Ungeduld mit. Die ständigen Gespräche darüber, der mitleidige Ton – eigentlich wollten die Frauen all das mit dem offensiven Bandnamen abhaken. „Denn wir sind nicht die fröhlichen Behindis, die drolligerweise jetzt auch noch Musik machen.“ Lucy bringt den Gedanken ihrer Mutter auf den Punkt: „Wir sind ganz einfach Musikerinnen, die eine Behinderung haben.“ Lieber würden die beiden über andere Dinge sprechen. Über ihre erste Platte zum Beispiel: eine EP mit sechs Stücken, vor wenigen Wochen erschienen. Oder darüber, wie aus Mutter und Tochter eine Band wurde.
„Wir machen zusammen Musik, seit ich denken kann“, sagt Lucy. Daran ist auch ein Stück weit der Wagenplatz schuld. Seit mehr als 30 Jahren wohnt Kika in dem gelb gestrichenen Wohnwagen, Lucy ist hier geboren und aufgewachsen. Nachbarn gibt’s keine, man kann laut sein und abends ein Feuer machen. „Es ist der perfekte Ort für Musik“, sagt Kika. „Deshalb lebe ich so.“ Eigentlich stammt Kika aus dem Chiemgau, das Studium brachte sie nach München. Sie machte ihren Abschluss im Fach „Deutsch als Fremdsprache“ und entdeckte neben dem Studium die Flamenco-Szene. Mit Freunden gründete sie den Wagenplatz. „Das gemeinsame Musikmachen hat fast automatisch zu dieser Lebensweise geführt.“ Wegen der Erblindung musste sie ihren Job als Lehrerin aufgeben. Seither ist ihr die Musik noch wichtiger geworden.