Neue Erziehungsmethoden : „Führen wie ein Wolf“
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Grundprinzip der Erziehung: Wölfe bringen ihren Kindern bei, für sich selbst zu sorgen, damit sie sich später zurechtfinden. Bild: dpa
Wie man Entscheidungen für die Familie trifft, ohne autoritär zu sein oder sich von den Kindern auf der Nase herumtanzen zu lassen. Ein Gespräch mit dem dänischen Erziehungsexperten Jesper Juul.
Herr Juul, wie geht es Ihnen? Warum müssen wir dieses Interview schriftlich führen?
Im Dezember 2012 hat mich eine seltene, schwere Nervenkrankheit erwischt, die zu einer Entzündung des Rückenmarks führt: Transverse Myelitis. Seitdem bin ich querschnittsgelähmt. Ich habe einen dauerhaften Luftröhrenschnitt und kann nicht sprechen. Derzeit lebe ich allein in meiner Wohnung in Dänemark und sitze in einem elektrischen Rollstuhl. Die meiste Zeit des Tages kann ich mich selbst versorgen: kochen, schreiben und so weiter.
So ist Ihr neues Buch „Leitwölfe sein“entstanden. In der Elternliteratur gibt es bereits Glucken, Raben- und Tigermütter. Warum noch eine Metapher?
Weil ich es für nötig hielt, sich von der überkommenen Polarisierung zwischen autoritärem und sogenanntem Laissez-faire-Erziehungstil zu befreien. Mehr als dreißig Jahre lang habe ich den Begriff „Leuchtturm“ benutzt, um sowohl die Rolle der Eltern als auch die Bedürfnisse ihrer Kinder zu beschreiben. Aber das Bild des Wolfes wirkt irgendwie wärmer, vielleicht ist es näher dran am Menschen. Das wird die Zeit zeigen.
Was können wir von Tieren lernen?
Tiere müssen ihren Jungen beibringen, für die eigenen Bedürfnisse zu sorgen und dadurch unabhängig zu werden. In diesem Prozess verkörpern die Erwachsenen Erfahrung und schaffen Vertrauen, während sie gleichzeitig im Blick haben, was wann gebraucht wird. Für Menscheneltern ist das Leben nicht ansatzweise so einfach und vorhersehbar. Aber wenn ich Eltern dazu inspirieren kann, über wechselseitiges Vertrauen nachzudenken, bevor sie an Leistung, Kontrolle und Erfolg denken, bin ich ein glücklicherer Mann.
Was ist Führung?
In Eltern-Kind-Beziehungen haben Eltern alle Macht. Ihr Verhalten und Vorbild bestimmt darüber, wie ihr Kind sich entwickelt und seine Fähigkeiten entfaltet. Führung in meinem Sinne meint die Art und Weise, wie Väter und Mütter sich entscheiden, diese Macht auszuüben - auf der Grundlage ihrer Philosophie und Werte, eigener Kindheitserfahrungen und ihres Wissens über Kinder. Nicht zuletzt geht es auch darum, bis zu welchem Grad es Eltern gelingt, ihre Vorstellungen in Verhalten umzusetzen. Die meisten sind da nicht besonders erfolgreich. Umso notwendiger ist es, dass sie bereit sind, von und mit ihren Kindern zu lernen, anstatt Perfektion anzustreben. Ich schlage für 2016 ein europaweites Eltern-Motto vor: „Good enough is the new perfect!“
Wo ist der Unterschied zu der Autorität, die Eltern früher hatten, allein, weil sie die Eltern waren?
Führung in meinem Sinne basiert auf Empathie und dem Versuch, so präsent und authentisch wie möglich zu sein. Eltern, die auf dieser Grundlage Entscheidungen treffen, riskieren, sich vorübergehend unbeliebt zu machen. Aber nur so werden sie vertrauenswürdig.
Ein gängiger Vorwurf heute: Eltern machen die Kinder zum Chef und lassen sich auf der Nase herumtanzen.
Das ist oft tatsächlich so. Vielleicht lebe ich nicht ausreichend lang oder bin als Autor nicht gut genug, um klarzumachen, dass Erziehung nicht nach dem Entweder-oder-Prinzip funktioniert. In diesem Fall vernachlässigen Eltern ihre eigenen Bedürfnisse, gewissermaßen als Opfer zugunsten dessen, was sie für das Beste für ihre Kinder halten. Das ist es aber nicht. Es ist auch weder das Beste für die Familie noch im Interesse der Gesellschaft. Kinder sind kompetent, was ihr Feedback Erwachsenen gegenüber angeht. Aber sie sind nicht in der Lage, die Verantwortung für ihr Wohlergehen geschweige denn für das ihrer Familien zu tragen. Gute, ehrenhafte Absichten können so auch heute zu ernsthafter Vernachlässigung führen, ganz so, wie es vor ein oder zwei Generationen in den meisten autoritären Familien gewesen ist.