Inflation der Nazi-Vorwürfe : Auf Twitter sind jetzt ALLE Rassisten
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Hat jetzt eine Diskussion ausgelöst: Enissa Amani 2015 bei der Verleihung des Deutschen Comedypreises Bild: dpa
In dem Kurznachrichtendienst werden immer wieder Nutzer, die sich eigentlich gegen Rassismus engagieren, als Nazis diffamiert. Was hat das für Folgen? Eine Analyse.
In diesem Artikel werden viele Zitate von Twitter vorkommen, also kann er auch gleich mit einem beginnen. Der Journalist Martin Schneider schrieb am Dienstag: „Wegen Ostern paar Tage nicht auf Twitter. Offenbar sind hier nun alle Rassisten.“ Tatsächlich hatten in den Tagen davor mehrere Twitter-Nutzer, die sonst vor allem für ihr Engagement gegen Rechtsradikale bekannt sind, Serien von Tweets veröffentlicht, die etwa so anfingen: „Heute wurde mir auf Twitter Rassismus vorgeworfen. Wer wissen möchte, wie es dazu kam, und was ich dazu zu sagen habe, liest den folgenden Thread.“ Diese Formulierung hatte Ralph Ruthe gewählt, ein Cartoonist, der seinen Bekanntheitsgrad immer wieder nutzt, um sich gegen Rechtspopulisten und Rechtsradikale zu positionieren – und dafür entsprechend angefeindet wird.
Am Wochenende war Ruthe ausnahmsweise nicht ins Visier von AfD- oder Trump-Fans geraten, sondern in das einer linksradikalen, feministischen Filter-Blase, die sich auf Twitter als Gralshüter des Antifaschismus versteht. Auslöser war, dass sich Ruthe mit der Journalistin Anja Rützel solidarisieren wollte, die nach einem kritischen Artikel über die deutsch-iranische Moderatorin Enissa Amani von deren Fans als Nazi beschimpft worden war. Auf „Spiegel Online“ hatte Rützel, die für ihre bissigen TV-Kritiken bekannt ist, einen Artikel über eine Preisverleihung geschrieben und das Jurymitglied Amani immer wieder „Komikerin“ genannt, weil Amani angekündigt hatte, nach Nicaragua auszuwandern, wenn sie noch einmal „Komikerin“ genannt werde. Amani verglich Rützel in den sozialen Medien daraufhin mit „AFDlern“, die sie aufforderten, das Land zu verlassen.
Seine Solidarität mit Rützel wollte Ruthe dann zeigen, indem er Amani auf Twitter noch mal „Komikerin“ nannte – und einen Link zu Flügen nach Nicaragua ergänzte. In seinem Rechtfertigungs-Thread schrieb er später dazu: „Augenblicklich hatte ich das Gefühl, dass der Tweet falsch verstanden werden könnte. Und dass es Leute geben würde, die ihn falsch verstehen WOLLEN. (...) 47 Sekunden (!) nachdem ich ihn getwittert hatte, löschte ich den Tweet wieder.“ In diesen 47 Sekunden war allerdings schon ein Screenshot gemacht worden, anhand dem ein Twitter-Nutzer Ruthe vorwarf, „in guter alter NPD-Manier ,guten Heimflug‘“ zu wünschen. Ruthe schrieb dazu: „Weder (...) schrieb ich ,Guten Heimflug‘, noch stammt Enissa Amani aus Nicaragua. Ich hatte mich ganz klar auf ihren ,Witz‘ bezogen. Ab hier hatten aber einige einfach Lust, mich für einen Rassisten zu halten.“
Diese Lust ist auf Twitter weit verbreitet. Auch den „Creative Director“ Alf Frommer erwischte es über Ostern, nachdem er Amani eine Komikerin genannt hatte, „die es nicht erträgt, dass man sie nicht lustig findet“. Frommer arbeitet sich auf Twitter regelmäßig an der AfD ab, steht seinen Angaben zufolge seit Anfang des Jahres auf einer Drohliste von Nazis, und hat „mehrere Wahlkämpfe für eine weltoffene und klar antirassistische Partei gemacht“. Am Montag schrieb er: „Es ist Wahnsinn zu erleben, was passiert, wenn hier auf Twitter eine Bubble über dich herfällt.“ Für ihn sei eine „Grenze überschritten, wenn sich da Leute zusammenschließen und man von denen einfach das Etikett ,Rassist‘ drangepappt bekommt“.