In ihrer Erinnerung ist es dunkel, als sie am 2. Juni 1967 gegen halb neun Uhr abends den Kopf des sterbenden Benno Ohnesorg auf ihre Handtasche bettet. Doch um diese Uhrzeit, sagt Friederike Hausmann, ist es im Frühsommer in Wirklichkeit ja noch hell.

Zeitzeugin wider Willen
Von LEONIE FEUERBACH2. Juni 2017 · Vor 50 Jahren wurde Benno Ohnesorg getötet. Friederike Hausmann beugte sich über den Sterbenden. Lange wollte sie sich nicht eingestehen, was das mit ihr machte – und radikalisierte sich stattdessen.
© dpa Friederike Hausmann beugt sich am 2. Juni 1967 in Berlin über den erschossenen Student Benno Ohnesorg. Er wurde bei einer Anti-Schah-Demonstration vor der der Deutschen Oper erschossen.
Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass sie sich ein Abendkleid und goldene Ohrringe anzog, um gegen den Besuch des Schahs von Persien und seiner Frau Farah Diba in West-Berlin zu protestieren. Das Paar besuchte die Deutsche Oper, und Hausmann, die damals noch Dollinger hieß, wollte sich mit ihrer feinen Kleidung unter die Gäste mischen – ein naiver Plan, sagt sie heute, denn alles war längst abgeriegelt. Die Studenten hatten sich Papiertüten mit dem Konterfei des Schahs aufgesetzt, von der Kommune1 gebastelt, einige warfen Eier und Tomaten, riefen „Schah, Schah, Scharlatan“ und „Schah-SA-SS“.

Es sei eine eher spaßhafte als bedrohliche Stimmung gewesen, erinnert sich Hausmann, obwohl elegant gekleidete Iraner, die im Gefolge des Schahs angereist waren, die sogenannten Jubelperser, Stunden vorher unter dem Schutz der Polizei vor dem Rathaus Schöneberg Demonstranten mit Latten verprügelt hatten.
Nach dem 2. Juni 1967 wurde aus dem spielerischen ein tödlich ernster Protest. Aus der Studentenbewegung gingen die „Bewegung 2. Juni“ und die Rote Armee Fraktion (RAF) hervor, die mit Geiselnahmen, Banküberfällen, Sprengstoffattentaten und 33 Morden die deutsche Gesellschaft erschüttern sollte. Die Achtundsechziger veränderten aber auch die Gesellschaft, die Einstellungen zu Erziehung, Sexualität, Religion, Moral.
Friederike Hausmann konnte das alles nicht ahnen, als die Polizisten begannen, auf die Demonstranten vor der Oper einzuknüppeln, sie auseinanderzutreiben und einzukesseln. Mit Dutzenden anderen floh sie vor den Knüppeln und Wasserwerfern in einen Innenhof an der Krummen Straße.
Dann ging alles ganz schnell: Ein junger Mann in rotem Hemd und Ledersandalen war zu Boden gegangen. Sie kniete sich hin, beugte sich über ihn, bettete seinen Kopf auf ihre Tasche. Ein Polizist wollte sie verjagen, sie herrschte ihn an, er solle einen Krankenwagen rufen. Jemand machte ein Foto, doch das bemerkte sie nicht. Der Krankenwagen kam, der Mann wurde abtransportiert, und Hausmann taumelte zurück auf die Straße. Dass das Blut an ihren Händen von einer Schussverletzung kam, wusste sie noch nicht. „Schaut mal, wie brutal die sind“, stammelte sie bloß und zeigte anderen Demonstranten die ausgestreckten Handflächen.
War es genau so? Wie soll sie das nach 50 Jahren noch wissen? Was Friederike Hausmann mit Sicherheit weiß: Sie war nur zufällig dort und hatte Benno Ohnesorg nie zuvor gesehen. Nur weil ein Foto entstand von dem Moment, in dem sie den Polizisten anherrscht, muss sie seit einem halben Jahrhundert als Zeugin für einen der wichtigsten Tage der deutschen Nachkriegsgeschichte herhalten. So sieht sie es zumindest. Dabei zeigt ihre verschwommene Erinnerung, so meint sie, dass Erzählungen von Zeitzeugen wenig taugen.
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Trotzdem hat sie zum 50. Jahrestag einem weiteren Interview zugestimmt. Sie trägt die Haare mit 72 Jahren noch kurz und blond wie mit Anfang 20, lebt in einer Dachgeschosswohnung in der Münchner Maxvorstadt. Dort erzählt sie, wie sie, politisch interessiert, aber nicht radikal, Mitte der Sechziger zum Studium nach West-Berlin kam. Die Stadt schockierte sie: kriegszerstört, trist, überaltert. Hausmann protestierte gegen den Vietnam-Krieg und für mehr Beteiligung der Studenten an der Uni. „Anfangs ging es wohl auch einfach bloß um schlechtes Mensa-Essen.“ Für die alten Westberliner, die dem Schah zujubelten, waren die Studenten trotzdem „Ungeziefer“: „Früher hätte man euch vergast!“
Am 1. Juni 1967 ging Friederike Hausmann, wie auch Benno Ohnesorg und viele andere, zu einem Vortrag des Exil-Persers Bahman Nirumand. Es hatte sie vor allem gestört, dass so ein Getue um den Schah gemacht wurde, dessen Besuch als politische Aufwertung der eingeschlossenen Stadt West-Berlin galt. Nirumand berichtete von Folter und politischer Justiz. Nun wollte Hausmann nicht nur gegen das Gehabe und die alberne Kommentierung der Outfits von Farah Diba, sondern auch gegen die Politik des Potentaten protestieren. Dass der Protest so gewalttätig endete, wäre vermeidbar gewesen: „Hätten die uns einfach da stehen lassen, hätte es niemand bis zum Ende der Oper ausgehalten.“ Stattdessen wollte West-Berlins Polizeipräsident Erich Duensing Härte gegen die demonstrierenden Studenten zeigen. „Knüppel frei“, wies er seine Leute an, sobald der Schah und seine Gattin in der Oper verschwunden waren. Sein brutales Vorgehen nannte er „Leberwursttaktik“: in die Mitte reinstechen, damit die Enden aufplatzen, die Menschen am Rand auseinandergetrieben werden. Doch die angrenzenden Straßen wurden zur Falle. Auch Benno Ohnesorg, der Romanistik und Germanistik studierte und wenige Wochen zuvor seine schwangere Freundin geheiratet hatte, lief in eine solche Falle. Gegen halb neun betrat er den Innenhof, einen Kissenbezug mit der Aufschrift „Autonomie für die Teheraner Universität“ in der Hand. Minuten später schoss ihm Polizist Karl-Heinz Kurras aus kurzer Entfernung in den Kopf.
In der ARD-Dokumentation „Wie starb Benno Ohnesorg?“ war nun erstmals verschollen geglaubtes Filmmaterial zu sehen. Es zeigt Kurras, wie er unbedrängt über den Hof auf Ohnesorg zuläuft, die Waffe in der Hand. Auf dem Band eines Toningenieurs hört man nach dem Schuss einen anderen Polizisten rufen: „Bist du wahnsinnig, hier zu schießen?“ Der Schütze entgegnet: „Die ist mir losgegangen.“ Kurz darauf der Befehl: „Kurras, gleich nach hinten, los, schnell weg!“
Kurras sagte später aus, Demonstranten hätten ihn zu Boden gebracht und ihm die Dienstwaffe entwenden wollen. Er habe zwei Warnschüsse abgegeben, der zweite habe Ohnesorg unbeabsichtigt und aus etwa zehn Meter Entfernung getroffen. Das Tonband wurde im ersten Prozess nicht gehört, vor dem zweiten verschwand es. Die Entfernung beim Schuss konnte nicht rekonstruiert werden, unter anderem, weil in der Nacht auf den 3. Juni im Krankenhaus Moabit das Schädelteil mit Einschussloch und Schmauchspuren aus Ohnesorgs Kopf herausgebrochen und nicht wiedergefunden wurde. Kurras wurde in beiden Prozessen freigesprochen.

Für Friederike Hausmann war der erste Freispruch ein einschneidendes Erlebnis. Der Moment im Hof kam ihr schon Minuten später unwirklich vor. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass er stirbt.“ Von Ohnesorgs Tod erfuhr sie erst am nächsten Morgen aus dem Radio. 10.000 Menschen begleiteten Ohnesorgs Sarg zur Zonengrenze, von wo aus er in seine Heimatstadt Hannover gebracht wurde. Hausmann war nicht dabei. Sie hatte an dem Tag eine Prüfung – und nicht das Gefühl, zur Trauergesellschaft zu gehören. Sie hatte den Mann, dessen Blut an ihren Händen geklebt hatte, ja nicht gekannt. Erst viel später konnte sie sich eingestehen, wie traumatisierend es war, einen Menschen sterben zu sehen. „Das war ein Mechanismus bei mir, wohl aus Selbstschutz“, sagt sie. „Die Gefühle zurückzudrängen und stattdessen eine politische Analyse zu machen.“ Diese Analyse sah, vor allem nach Kurras’ Freispruch, so aus: „Da zeigen sich der überwunden geglaubte Faschismus und die rechte, politische Justiz.“ Hausmann trat dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bei und besuchte einen Kursus über Marx’ „Kapital“, um die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Sie wohnte in einer Wohnung des SDS in Berlin-Halensee, schwankte zwischen der „Liga gegen den Imperialismus“ und der „KPD-Aufbauorganisation“, kurz „KPD-AO“. „Das war ein furchtbar orthodoxer Verein, eine völlige Verirrung.“
© AP Studenten legen am 5. Juni 1967 an einem Gedenkstein für Opfer des Nationalsozialismus in München einen Kranz für Benno Ohnesorg nieder. Für Studenten wie Hausmann zeigte sich in seinem Tod der überwunden geglaubte Faschismus.
Doch der Freispruch Kurras’ hatte sie verändert. Es dauerte viele Jahre, bis sie erkannte: So kompromisslos und radikal bin ich eigentlich gar nicht. Davor fiel sie aber noch unter den „Radikalenerlass“, durfte nicht als Lehrerin für Latein und Geschichte arbeiten. Ihr Auto war immer wieder in der Nähe ungenehmigter Demonstrationen gesehen worden, das reichte für ein Berufsverbot. Sie lebte und arbeitete nach ihrer Promotion einige Jahre in Italien. Nach ihrer Rückkehr arbeitete sie als Übersetzerin, Autorin und doch noch als Lehrerin.
Erst in den vergangenen Jahren erhärtete sich der Verdacht, dass Polizei und Justiz systematisch Beweismittel vernichtet hatten, um Kurras zu decken. Viele Beteiligte hatten gelogen, etwa Kurras’ Vorgesetzter Helmut Starke, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier, der behauptete, nichts mitbekommen zu haben, obwohl auf Videoaufnahmen zu sehen ist, dass er im Moment des Schusses dicht bei Kurras stand. Es wird vermutet, dass er es ist, der dem Todesschützen auf dem verschwundenen Tonband befiehlt, sich zurückzuziehen. Außerdem zeigen die Recherchen des Autors Uwe Soukup: Die Eskalation am 2. Juni war geplant. Hinter dem Bauzaun, vor dem die Demonstranten vor der Oper bis zum Absperrgitter in einer Art Schlauch gestanden hatten, waren Steine und Hartgummiringe Richtung Oper geworfen worden – auf dem Baugrundstück standen aber gar keine Demonstranten. Die Ringe stellte die Baufirma dem Berliner Innensenator in Rechnung.
Als dann 2009 herauskam, dass Kurras Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen war, erschien alles noch verworrener. An eine große Verschwörung glaubte Friederike Hausmann trotzdem nie. Sie sieht es so: Die Polizei wollte es den Studenten mal so richtig zeigen. Den Tod Ohnesorgs wollte sie nicht, vertuschte aber im Nachhinein seine Umstände. Und Kurras war ein psychisch labiler Waffennarr, der seine Ausflüge zum Schießstand mit seiner Spitzel-Tätigkeit finanzierte, aber nicht ideologisch motiviert war. Die Vorstellung, er habe mit dem Mord im Auftrag der DDR eine Eskalation der Ereignisse herbeiführen wollen, hält Hausmann für absurd.
Nach 50 Jahren, sagt Friederike Hausmann, könne man über den 2. Juni 1967 sagen: „Es ist jetzt wirklich Geschichte.“ An das berühmte Bild, das erstmals nach Tagen in einer Uni-Zeitung erschien, wird sie immer wieder an den Jahrestagen erinnert. Die Fragen nach ihren Gefühlen empfindet sie als anmaßend, mögliche Antworten als nichtssagend. Denn mit jeder Wiederholung werde unklarer, was sie selbst erlebt und empfunden habe und was sie durch Artikel und Dokumentationen bloß verinnerlicht habe – wie ein Kind, das die Erzählungen der Eltern irgendwann mit der eigenen Erinnerung verwechselt.
Eine emotionale Erinnerung teilt sie dann aber doch noch: Sie hat die Frau von Benno Ohnesorg nie kontaktiert. Sie sah sich nicht in einer Rolle, die es gerechtfertigt hätte, der jungen Witwe ihr Beileid auszusprechen. „Das war natürlich lächerlich“, findet sie heute. Und was bleibt nun vom Tod Benno Ohnesorgs? „Er war ein Wendepunkt in meiner persönlichen Geschichte und ein Punkt, in dem die Studentenbewegung zersplitterte“, sagt die Zeitzeugin wider Willen. „Und es war eine vollkommen sinnlose Tat.“
Quelle: F.A.Z.
Veröffentlicht: 01.06.2017 20:13 Uhr
