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Erinnerungen an meinen Vater

Von ANDREAS PLATTHAUS, mit Texten von HANS MAGNUS ENZENSBERGER
Bild: Barbara Klemm

17.10.2017 · Wie sein Vater als Fernmeldetechniker im „Dritten Reich“ den eigenen Überzeugungen treu blieb, hat Hans Magnus Enzensberger immer fasziniert. Für die Familie hat er seine Erinnerungen an ihn aufgeschrieben. Zum ersten Mal kann sie jetzt auch ein großes Publikum lesen.

V or einem Jahr erreichte mich ein schön gestaltetes Buch. Es trug keine Verlagsbezeichnung, sondern an deren Stelle den Vermerk „Impensis Auctori“, zu deutsch: auf Kosten des Autors. Und dieser Autor, der da in Eigenregie ein reich bebildertes Werk von fast 240 Seiten hatte drucken lassen, war einer der Bekanntesten und Besten, die wir haben: Hans Magnus Enzensberger. 2014 kam bei Suhrkamp sein wunderbarer Erinnerungsband „Tumult“ über die sechziger Jahre heraus, doch in jener Zeit war der 1929 geborene Enzensberger schon ein berühmter Mann. Wie aus ihm wurde, was er ist, erfuhr man also nicht. Das konnte ich nun in dem unangekündigt hereingeschneiten Buch nachlesen, das einen denkbar vieldeutigen Titel trug: „Eine Handvoll Anekdoten, auch Opus Incertum“.

Ein unsicheres Werk also, aber was meinte Enzensberger damit? Den auf 99 Exemplare limitierten Privatdruck hatte er nur für Kinder, Verwandte und Freunde herstellen lassen (und ein paar Überschussexemplare für andere interessierte Leser wie mich). Denen sollte ein Geschichtenschatz aus der Jugend des Schriftstellers erschlossen werden, lauter im Laufe der Zeit naturgemäß unsicher gewordene schlaglichtartige Erinnerungen an Erlebnisse der zwei ersten Lebensjahrzehnte, mit kleinen Ausflügen in die Familiengeschichte davor – es gibt ein Kapitel „Geisterhafte Vorfahren“ über die Großeltern, und es gibt einen in seiner Lakonie besonders bewegenden „Verfrühten Nachruf“ auf den im Jahr 2009 verstorbenen Bruder Christian Enzensberger. Insgesamt enthält das Buch 108 Anekdoten samt zahlreichen passenden Bildfundstücken aus dem Familienarchiv oder den Weiten des Internets.

Familie Enzensberger hatte vier Söhne, neben Hans Magnus als Ältestem und Christian noch Ulrich und Martin. „Wir waren drei schreibende Brüder“, hat Hans Magnus Enzensberger dazu einmal gesagt, „Martin, der vierte, der früh gestorben ist, war Drucker und Setzer, und ich war jahrelang Verleger.“

Ein Büchermensch: Hans Magnus Enzensberger in seiner Münchener Wohnung Bild: Helmut Fricke

Büchermenschen also waren sie alle, doch ihr Vater war Diplomingenieur, wenn auch ein literarisch sehr belesener. Dieser Andreas Enzensberger ist der Dreh- und Angelpunkt im Anekdotenbuch. Nicht nur, dass die Fotos eine große physiognomische Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Sohn beweisen. Auch das Geschick, mit dem Andreas Enzensberger sich durch die Herausforderungen der Zeitläufe bewegte – und wir reden für den Zeitraum des Buches von „Drittem Reich“, Zweitem Weltkrieg und Besatzungszeit –, nahm die quecksilbrige Beweglichkeit und Schlagfertigkeit von Hans Magnus Enzensberger vorweg. Wie unzuverlässig die erinnerten Episoden auch sein mögen, dieses Faktum ist sicher.

Für das Frankfurter Allgemeine Magazin durften wir die schönsten und bezeichnendsten Vater-Geschichten aussuchen und auch auf die von Hans Magnus Enzensberger ergänzten Fotos zurückgreifen. Damit wird zum ersten Mal eine Kostprobe aus „Eine Handvoll Anekdoten, auch Opus Incertum“ allgemein zugänglich gemacht.

Im Frühjahr nächsten Jahres soll, so die Planung, der Band als Ganzes auch offiziell erscheinen, voraussichtlich bei Suhrkamp, also nicht mehr auf Kosten des Autors. Dann werden wir alle auf unsere Kosten kommen.


Nächstes Kapitel:

Ein vielseitiger Mann


ENZENBERGERS ERINNERUNGEN

Ein vielseitiger Mann

W erktags ging der Vater ins Büro, das gleich neben dem Hauptbahnhof in einem Postgebäude lag. Nur dass er dort nichts mit Postboten und Briefmarken zu tun hatte, sondern mit dem Telephon. M. besuchte ihn einmal, um herauszufinden, was er dort eigentlich trieb. „Für reibungslose und prompte Verbindungen zu sorgen“, so erklärte er seine Aufgabe. „Das ist gar nicht so schwer. Eigentlich langweilig. Immer dasselbe. Aber telephonieren wollen sie alle.“ Was Ausdrücke wie Feldstärkemessung, Hebedrehwähler und Kabelverzweiger bedeuteten, wollte M. so genau nicht wissen.

Sein Vater wäre lieber zur Bahn gegangen. Zu Hause blätterte er gerne in dicken Kursbüchern. Dort war verzeichnet, wie man am besten nach Tanger oder Wladiwostok kam. Sogar Zahnradbahnen, Fähren und Schiffsverbindungen waren angegeben. Einmal zeigte er M., wie man auf großen Bogen graphische Fahrpläne optimieren kann, um bessere Anschlüsse zu erreichen. Er hatte nur keine Lust, bei der Verwaltung der Reichsbahn zu antichambrieren, und so blieben seine Vorschläge in der Schublade liegen.

Andreas Enzensberger entwarf Baupläne für Konstruktionen aus seinen unerschöpflichen Metallbaukästen aus dem Hause Trix. Bild: Enzensberger

Mit seiner Beamtentätigkeit, die er mit einer Art von Ironie, wie mit der linken Hand, erledigte, war er unterfordert. Leise vor sich hin summend saß der Vater abends am Schreibtisch, wo er nicht gestört werden durfte, und gab sich anderen Dingen hin. Er spielte Zither, für die er ganze Partituren transponierte, heftete seine Reisen in penibel ausgeführten Statistiken ab und entwarf Baupläne für Konstruktionen aus seinen unerschöpflichen Metallbaukästen aus dem Hause Trix. Mit Tusche und Farbstift ausgeführte Risse gaben die Bauanleitungen vor. Auf großen Brettern wurden beispielsweise ein meterhoher Leuchtturm, ein Hafenkran oder eine Rheinbrücke aufgebaut. Noch aufwendiger nahm sich sein Vorrat von Anker-Steinbaukästen aus. Sorgfältig bereitete er Grund- und Aufrisse seiner Gebäude vor, bis zuletzt ein Palast, ein Hauptbahnhof oder eine Moschee aus gelben, roten und blauen Steinen errichtet waren.

Sorgfältig bereitete der Vater Grundund Aufrisse seiner Gebäude vor, bis zuletzt ein Palast, ein Hauptbahnhof oder eine Moschee aus Anker-Bausteinen errichtet waren. Bild: Enzensberger

Oft zog er sich in seine Werkstatt auf dem „oberen Boden“ zurück, wo er schnitzte, sägte oder Lampen baute. In Alben und Schachteln verwahrte er seine Photographien. Er besaß eine Leica. Manchmal durfte M. zusehen, wie er in der Dunkelkammer bei rotem Licht seine Aufnahmen entwickelte, wie er das Negativ belichtete, vergrößerte und fixierte. Wie durch Zauberhand erschien das, was er auf den Film gebannt hatte, auf dem chamois getönten, zackig gerahmten Papier. Datum, Objektiv, Blende und Belichtungszeit waren akribisch auf der Rückseite vermerkt, und die Rollen mit den Negativen wurden in numerierten Boxen verwahrt. Heute noch steht in M.s Regal ein Bildband mit dem Titel „Es kommt der neue Fotograf“.

Als es in Deutschland keine englischen Bücher mehr zu kaufen gab, übersetzte M.s Vater mehr als ein Dutzend Romane, Erzählungen und Essays. Die Liste der Autoren ist eindrucksvoll, sie reicht von Somerset Maugham bis zu P. G. Wodehouse und von Conan Doyle bis zu George Orwell. Die Vorlagen verschaffte er sich antiquarisch; es waren Broschuren aus der Edition Tauchnitz. Die Manuskripte tippte er auf einer Reiseschreibmaschine ab, heftete und band sie ein, alles für eine einzige Leserin, seine Frau. Nie hat er daran gedacht, damit oder mit seinen anderen Liebhabereien Geld zu verdienen. Den Markt überließ er den Kaufleuten, den Gemüsehändlern und den Banken.


Nächstes Kapitel:

Zuckerbrot


ENZENSBERGERS ERINNERUNGEN

Zuckerbrot

D ie Aufgaben, vor die sich M.s Vater gestellt sah, gingen ihm leicht von der Hand. Drei Stunden täglich hätten ausgereicht, um sie zu erledigen. Doch seine Kollegen sahen das anders; sie fühlten sich wohl hinter ihren Schreibtischen, seufzten unter der Last ihrer Zuständigkeiten und führten lange Palaver in der Kantine.

Der Vater dagegen kam mittags immer zum Essen nach Hause. Bevor er wieder in sein Büro zurückkehrte, brauchte er zwei Tassen Kaffee und ein ovales Stück Blätterteig. Die eine Hälfte war honigfarben karamellisiert, die andere mit Schokoladenguss überzogen. M. musste ihm dieses Backwerk, das „die Schuhsohle“ hieß, aus der Feinbäckerei Schimmel besorgen.

Mit Virginia-Zigarre: Wenn Andreas Enzensberger nach der Arbeit allein ins Café ging und rauchte (hier ein Foto vom Februar 1935), blieben die Seitenblicke seiner Frau aus. Bild: Enzensberger

Die Frau des Bäckers, eine starke Blondine, kannte dieses Ritual, das sich täglich um die gleiche Zeit abspielte. M. gefiel ihr Name; er bewunderte sie und verglich sie insgeheim mit einer weißen Stute. Sie zwinkerte ihm zu und bot ihm eine süße Zugabe an, eine Nussschnecke oder eine Linzer Schnitte. Mit ähnlich zarten Genüssen begegnete M.s Vater dem dröhnenden Lauf der Ereignisse. Einmal in der Woche verließ er pünktlich um halb fünf, früher als sonst, seinen Arbeitsplatz und kam erst spät nach Hause. Wo mochte er diese freien Stunden zubringen?

M. beschloss, dieser Frage nachzugehen. Er wartete am Eingang zur Direktion, und als der Vater erschien, ging er ihm nach bis zu einem kleinen Café in der Altstadt. Durch die Fensterscheibe mit ihrer geklöppelten Gardine sah er ihn allein am Tisch sitzen, wo er einen Kaffee mit Cognac schlürfte und an einer langen Regie-Virginia zog. Dort fühlte sich der Vater von seinen Kollegen unbeobachtet. Auch die Seitenblicke seiner Frau blieben aus, der aus ihrer Wandervogel- und Reformzeit ein gesundes Misstrauen gegen den Alkohol und das übermäßige Qualmen geblieben war. Schnapsflaschen auf dem Buffet duldete sie nicht, aber ein Gläschen in Ehren war dem Vater nie zu verwehren.

Vielleicht diente das biedere Lokal, das ausgerechnet Café Seufferlein hieß, dem Vater aber auch nur als Zuflucht vor den Zumutungen, welche die Weltgeschichte für ihn bereithielt.


Nächstes Kapitel:

Pariser Sommer


ENZENSBERGERS ERINNERUNGEN

Ein Pariser Sommer

Z um Soldaten war M.s Vater untauglich. Zu kurzsichtig für einen Scharfschützen, konnte er nicht einmal zackig grüßen. Das fiel nicht weiter auf, da er „u.k. gestellt“ war; das heißt, er war unabkömmlich und von keiner Einberufung betroffen, weil seine Tätigkeit als kriegswichtig galt. Erst im Sommer 1940 musste er plötzlich die Uniform eines Majors anlegen. ZbV hieß das: „Zur besonderen Verwendung beim Höheren Nachrichtenführer in Frankreich.“

Nach dem deutschen Einmarsch war es dort zu chaotischen Verhältnissen gekommen. Millionen waren auf der Flucht vor der Wehrmacht. Auch die Telephonnetze waren infolge des Krieges zusammengebrochen oder beschädigt. Die Aufgabe des frischgebackenen Majors bestand darin, sie wieder zusammenzuflicken. Dafür war er kompetent. Außerdem sprach er ein halbwegs brauchbares Französisch, und auf der Basis des gemeinsamen Interesses an einem funktionierenden Fernmeldewesen kam er mit seinen Pariser Kollegen gut zurecht.

„Enz“ – hier 1941 am Schreibtisch in Paris – war weit davon entfernt, als Offizier ernstgenommen zu werden, obwohl er Major war. Bild: Enzensberger

Natürlich war M.s Vater weit davon entfernt, als Offizier ernst genommen zu werden, obwohl man ihn zum Kriegsverwaltungsrat beim Militärbefehlshaber von Belgien und Nordfrankreich befördert hatte. Die Truppe musste zackig salutieren, wenn er vorbeikam. Ihm war das peinlich, und die Feldwebel grinsten heimlich über den „Etappenhengst“.

Im Hotel Majestic an der Avenue Kléber wurde ihm ein Zimmer zugewiesen. Dort gefiel es ihm. Nicht nur konnte er die üblichen Geschenke, ein Parfum oder ein Paar Seidenstrümpfe, nach Hause schicken. Er machte sich auch zu den Bouquinisten auf und erwarb bei ihnen nicht nur den einen oder anderen Band der Comédie humaine, sondern auch einen broschierten roman rose. M. studierte dieses galante Werk mit Hilfe eines Wörterbuchs, weniger aus literarischem Interesse als aus Neugier auf die Liebesnächte, die dort geschildert wurden.

Bleibende Erinnerung an seine französischen Tage: die „Brüsseler Zeitung“ Bild: Enzensberger

Nach einem guten Jahr war das Telephonnetz wieder intakt. Der Kriegsverwaltungsrat wurde nicht mehr gebraucht. Er konnte zur Familie und zu seinem Büroalltag zurückkehren. Eine bleibende Erinnerung an seine französischen Tage war die „Brüsseler Zeitung“, ein Tagesblatt der deutschen Besatzer, das täglich im Briefkasten landete. Dieses Organ unterstand nicht dem Minister für Volksaufklärung und Propaganda, sondern dem General von Falkenhausen, der seinen eigenen Kopf hatte. Deshalb standen dort manchmal Dinge, von denen man aus dem „Völkischen Beobachter“ nichts erfuhr. M.s Vater, der sich auf solche Nuancen verstand und zwischen den Zeilen lesen konnte, fuhr fort, das Blatt auf völlig legale Art zu abonnieren.

M. studierte gern die Anzeigen von Modehäusern, Spirituosenfirmen und Revuetheatern in Paris und Brüssel, die von den Vergnügungen der Okkupanten ein herrliches Bild abgaben. Auch Karikaturen gab es, die den kleinen italienischen Marschall Badoglio zeigten, wie er auf dem Schoß von Churchill saß, oder den „Banditen“ Tito, der mit einem großen roten Schal der Wehrmacht mit der Maschinenpistole auflauerte.


Nächstes Kapitel:

Gedämpfte Unterhaltung


ENZENSBERGERS ERINNERUNGEN

Eine gedämpfte Unterhaltung

W ie kann es sein, dass die meisten seiner Mitbürger hartnäckig dabeiblieben, sie hätten von nichts gewusst? Schon im Kindergarten hat man ihnen doch, statt mit dem Schwarzen Mann, gedroht: Pass auf, Freundchen, sonst kommst du nach Dachau! M. war genauso blöd wie die anderen. Einem Jungen aus der zweiten Klasse des Gymnasiums ist das, was die Erwachsenen Politik nennen, ziemlich gleichgültig. Dafür beseelt ihn eine angeborene triebhafte Neugier. Schon im zartesten Alter entwickeln sich Menschen zu Forschern, die darauf spezialisiert sind, das, was Erwachsene ihnen zu verheimlichen suchen, zu erraten, ganz unabhängig davon, um welche Tabus es geht.

Eines Abends, es muss im Jahr 1942 gewesen sein, empfing M.s Vater einen alten Freund, der Onkel Bé genannt wurde, obwohl er nicht zur Familie gehörte. Die beiden hatten zusammen studiert. Der schnurrbärtige Ingenieur arbeitete bei AEG-Telefunken, dem größten deutschen Elektrokonzern. Er hatte es dort bis zum Vorstand gebracht. Selbstverständlich war er „unabkömmlich“ und somit nie zur Wehrmacht eingezogen worden.

Die beiden unterhielten sich spätabends im Wohnzimmer bei mehr als einem Glas Wein. M. lag nebenan im Bett und tat so, als schliefe er. Der gedämpfte Tonfall der beiden Herren verhieß verborgene Aufschlüsse. Vorsichtig drückte er die Klinke nieder und öffnete einen Spalt weit die Tür.

Geheime Reichssache: Zehntausende wurden im ganzen Reich zu besonderen Güterzügen der Bahn gebracht und verschwanden im besetzten Polen. Bild: Enzensberger

Der Lauscher hörte, was sein Vater dem Freund anvertraute. Man habe ihm schon vor dem Krieg angeboten, nach Berlin ans Postministerium zu wechseln. Er habe den Posten eines Regierungsdirektors ausgeschlagen, weil er lieber bei seinen unauffälligen Routinen bleiben wollte. Noch weniger verlockte es ihn, nach Krakau zu gehen und sich dort im Rang eines Staatssekretärs beim Generalgouvernement zu verdingen. Ein gewisser Hans Frank habe sich dort in der Residenz der Könige breitgemacht und herrsche über das besetzte Polen.

Sein Vater fragte den Berliner Freund, ob er etwas darüber wisse, wie es dort zugehe. Onkel Bés Antwort konnte M. nur bruchstückweise verstehen, weil die beiden zu flüstern anfingen. Klar war nur, dass Zehntausende im ganzen Reich zu besonderen Güterzügen der Bahn gebracht wurden und im besetzten Polen verschwanden. Von den Abgereisten habe man nie wieder etwas gehört. Das war Geheime Reichssache. Von diesem Ausdruck war M. beeindruckt. Unter einem Generalgouvernement konnte er sich nichts vorstellen, und den Namen Frank hat er erst nach dem Ende des Kriegs wieder gehört, als dieser Mann in Nürnberg zum Tod verurteilt und gehenkt wurde.

Auch von anderen Geheimnissen war an diesem Abend die Rede. Der „eigene Laden“, die AEG, hatte sich am Bau eines Wasserkraftwerks in den Hohen Tauern beteiligt. In Gabbrun oder Kapruhn – wieder ein unverständlicher Name –, sei es zu technischen Schwierigkeiten gekommen, es habe Tote gegeben, den Baufirmen seien die Zwangsarbeiter weggenommen worden, und das Projekt sei gescheitert.

Die Bauarbeiten am Kraftwerk Kaprun in Österreich verliefen schleppend. Von solchen Geheimnissen erfuhr man nur, wenn man sich schlafend stellte und zuhörte. Bild: Enzensberger

Das Gespräch der beiden Ingenieure stockte. Erst nach ein paar weiteren Gläsern Wein erging sich der Onkel Bé in technischen Andeutungen, die über alles hinausgingen, was in den Physikstunden gelehrt wurde. Dabei fielen Wörter wie Atom, Zyklotron und Uranium. Dieses Expertengeflüster erinnerte M. an einen „Zukunftsroman“ mit dem Titel „Atomgewicht 500“, den er kurz davor verschlungen hatte. Das war eine spannende Saga über die unbegrenzten Möglichkeiten und Gefahren eines fernen, phantastischen Zeitalters, weit entfernt von der Armseligkeit der Gegenwart. Solche Romane zirkulierten im Dritten Reich noch nicht unter dem Namen Science-Fiction.


Nächstes Kapitel:

Wehrkraftzersetzung


ENZENSBERGERS ERINNERUNGEN

Ein Fall von Wehrkraftzersetzung

M s Vater war seit dem März 1945 verschollen. Ungewöhnlich war das nicht. Hunderttausende waren auf der Flucht oder saßen in irgendwelchen Lagern in Sibirien, in Afrika oder in amerikanischen Baracken fest. Erst nach der bedingungslosen Kapitulation des Großdeutschen Reiches stellte sich heraus, wo der Vater geblieben war. Er saß im Nürnberger Zellengefängnis an der Fürther Straße, eben dort, wo die Alliierten ein paar Monate später die deutschen Kriegsverbrecher unterbrachten, um sie vor Gericht zu stellen.

Akten über seine Verhaftung gibt es nicht. Fest steht, dass man M.s Vater „Wehrkraftzersetzung“ vorgeworfen hat, ein Vergehen, auf das damals die Todesstrafe stand. Nicht nur soll er unter Zeugen am Endsieg gezweifelt und sich abfällig über den Führer geäußert haben. Noch gravierender war, dass er den Befehl verweigerte, alle Anlagen zu zerstören, die er im Lauf seines Berufslebens aufgebaut hatte: die Vermittlungsknoten, die, über ganz Bayern verteilt, für den Betrieb des Telephonnetzes sorgten. Die Politik der verbrannten Erde, auf welche die Reste der Reichsregierung erpicht waren, wollte ihm nicht einleuchten.

Im Zellengefängnis der Baltic Guards in Nürnberg saßen sie alle. Schon bald wurde „Enz“ aber von den Amerikanern befreit. Bild: Enzensberger

Die Ermittlungsrichter und die Staatsanwälte kamen jedoch zu dem Schluss, dass Strafverfahren dieser Art kein günstiges Licht mehr auf ihre Zukunftsaussichten werfen würden. Die amerikanischen Truppen standen kurz davor, die Stadt einzunehmen. Deshalb behandelten die Juristen den Fall, anders als die Gestapo, dilatorisch. Sie ließen M.s Vater in seiner Zelle schmoren und sorgten dafür, dass die Akten verschwanden.

Schon in den ersten Tagen befreiten die Amerikaner ihn und ein paar hundert andere Zivilisten aus dem Zellengefängnis. M.s Vater konnte in die Reste seiner beschädigten Wohnung zurückkehren und seine berufliche Tätigkeit wiederaufnehmen. Denn alle wollten so bald wie möglich wieder telephonieren, nicht nur die notdürftig eingesetzte kommunale Administration, sondern auch die amerikanischen Stäbe. Die Militärregierung fand bald heraus, dass M.s Vater nicht ganz unbelastet war; sein Name erschien auf einer Mitgliedsliste der NSDAP, in die er schon 1933 eingetreten war. Daraufhin wurde er vom Oberpostrat zum Telegraphenarbeiter degradiert. Das kümmerte ihn nicht, weil er nie auf seinen Titel Wert gelegt hatte und weil sich an seinen Aufgaben nichts änderte. Auch die Minderung seines Gehaltes ließ ihn kalt, weil der Wert der Reichsmark ohnehin im freien Fall war.

Monate vergingen, bis M.s Familie von diesen Geschehnissen erfuhr. An Ferngespräche war nicht zu denken; von einem Personenverkehr mit der Eisenbahn war noch lange nicht die Rede; es dauerte Monate, bis die ersten, mit Holzgas betriebenen Omnibusse fuhren. Erst als es soweit war, tauchte M.s Vater unversehens und unerwartet wieder in der Kleinstadt auf, in die es seine Familie verschlagen hatte.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Magazin

Veröffentlicht: 17.10.2017 15:37 Uhr