Google Street View : Das Museum für verlorene Dinge
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Ein leeres Amerika: Kevin Dooley aus Arizona ist 21.700 Kilometer durch sein Land gereist – von seinem Wohnzimmer aus. 20.000 Screenshots sind dabei entstanden, die er per Photoshop bearbeitete. Hier zu sehen ist der Dalton Highway in Alaska. Bild: Google Maps 2013 / Kevin Dooley
Vor fünf Jahren ging in Deutschland die Street-View-Funktion von Google online. Sie erlaubt es uns, um die Welt zu reisen, ohne uns fortzubewegen – und dabei erstaunliche Entdeckungen zu machen.
Herr Janosch“, fragte das „Zeit-Magazin“ kürzlich den berühmten Illustrator, „was wäre eigentlich gewesen, hätten Tiger und Bär Smartphones gehabt?“ Und Janosch antwortete: „Sie hätten Panama einfach gegoogelt und wären im Übrigen am Tisch sitzen geblieben.“
Hätten Tiger und Bär Google Street View benutzt, hätten sie noch ein paar Dinge mehr vom Tisch aus machen können: das Great Barrier Reef in Australien erkunden. Weinmuseen in Kalifornien besuchen. Sich den Broadway in New York entlangklicken und in der Zeit zurückreisen. Tiger und Bär, immerhin zwei begeisterungsfähige Persönlichkeiten, wären lange am Tisch sitzen geblieben.
Mit Pferdeschlitten über zugefrorene Seen in der Mongolei
Street View startete 2007 in den Vereinigten Staaten als Funktion von Googles Kartendienst Maps. Mit einem Klick konnte man von der Vogelperspektive in ein 360-Grad-Panorama einiger amerikanischer Großstädte wechseln und sich darin bewegen. Möglich machten das Google-Autos mit auf dem Dach montierten Kameras, die die Straßen entlanggefahren waren und sie abfotografiert hatten.
Mittlerweile ist das kalifornische Unternehmen weiter. Google hat gut ein Drittel der Erde mit Street-View-Aufnahmen abgedeckt: fast ganz Nord- und Lateinamerika, große Teile Europas und Australiens. Jetzt dringen die Kameras nach Afrika und Asien vor - zuletzt schickte Google Pferdeschlitten mit Kameras über zugefrorene Seen in der Mongolei. Freiwillige zogen mit Kamerarucksäcken, Trekker genannt, durch Nationalparks. Das Unternehmen schickte die Weltklassekletterer Alex Honnold, Lynn Hill und Tommy Caldwell die 1000 Meter hohe Wand des El Capitan im Yosemite-Nationalpark in Kalifornien hinauf. Street View hat die gepflasterten Straßen verlassen. Man kann nun viele Kilometer am Stück reisen und sich große Teile der Welt vom Schreibtisch aus anschauen.
Kevin Dooley legte digital 21.700 Kilometer zurück
Es gibt ja wirklich Leute, die so etwas machen. Kevin Dooley zum Beispiel. Im Hauptjob ist er Wirtschaftsprofessor an der Universität von Arizona in Phoenix, in seiner Freizeit leidenschaftlicher Fotograf. In langen Stunden im Büro kam er auf die Idee, er könne auf digitales Fotografieren umsteigen - genauer: Fotografieren im Digitalen. Und unternahm einen epischen Roadtrip, für den er im richtigen Leben niemals Zeit gehabt hätte: von Deadhorse, einer Ölarbeitersiedlung im äußersten Norden Alaskas, nach Ushuaia im argentinischen Teil von Patagonien. Auf Google Street View.
21.700 Kilometer legte Dooley digital zurück; ein Jahr, sieben Monate und 19 Tage dauerte das Projekt. Dooley reiste ein- bis zweimal in der Woche, abends nach der Arbeit, in Sitzungen von drei Stunden, 200 Kilometer am Stück. Dabei schoss er über 20.000 Fotos (machte also Screenshots, die er dann mit Photoshop bearbeitete und verfremdete); 931 davon postete er auf dem Fotodienst Flickr, um seinen Trip zu dokumentieren. Warum das alles?
Dooley lacht am Telefon und sagt: „Ich wollte mir die amerikanischen Kontinente anschauen, von oben bis unten.“ Professor Dooley fuhr also durch die Wildnis Alaskas, vorbei an den Rocky Mountains von British Columbia und Alberta, und betrat die Vereinigten Staaten über die Great Plains von Montana und Wyoming. Bald begann er, auf ein immer wiederkehrendes Motiv zu stoßen: „Ich sah ein leeres Amerika“, sagt er. Dooley fuhr durch die Great Plains, die seit der Industrialisierung der Landwirtschaft immer weniger Menschen brauchten, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, durch Geisterstädte. So begann er, in seinem Road-Trip durch Amerika Muster zu sehen, Muster der Urbanisierung und damit verbundener Landflucht. Er sah die verfallenden Kleinstädte der nordamerikanischen Great Plains mit ihren Agrarruinen und verlassenen Silos; und er durchfuhr die Megastädte Lateinamerikas, voller Baukräne und roher Zementbauten. Dooley staunte über die Graffitikultur in der chilenischen Hafenstadt Valparaíso und die Gated Communities in den kolumbianischen Bergen.