Späte Vergebung : Versöhnung am Sterbebett
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Eine Versöhnung mit den Eltern ist nicht leicht, besonders wenn die Aussprache am Sterbebett erfolgen muss. Bild: dpa
Manche Menschen leiden ihr Leben lang unter dem Vater oder der Mutter. Und fragen sich dann am Sterbebett: Müssen wir uns miteinander versöhnen? Eine Expertin weiß Rat.
Claudia W., 54, kann sich noch genau daran erinnern, wie die Beziehung zu ihrer Mutter in die Brüche ging. Es war etwa 25 Jahre nach der Trennung ihrer Eltern - einer Trennung, die die Mutter nie akzeptiert hatte. Sie blendete aus, dass ihr Ex-Mann eine neue Partnerin hatte. Auch dass sie, die Mutter seiner Kinder, nun keinen Mann mehr an ihrer Seite hatte, ignorierte sie. Denn eines hatte sich auch nach der Trennung nicht geändert: Auf Familienfeiern konnte sie immer noch Seite an Seite mit ihm auftreten.
Doch kurz vor seinem Tod hatte Claudia W.s Vater dann, für die Mutter überraschend, sein Testament geändert - zu ihren Ungunsten und zu Gunsten seiner neuen Partnerin. „In diesem Moment erst merkte sie, dass sie für ihn keine Rolle mehr spielte, und verlangte von mir, dass ich mich klar an ihrer Seite und gegen meinen Vater positioniere“, erzählt Claudia W. Doch W. tat nicht, was die Mutter wollte, weil sie das Vorgehen ihres Vaters für fair hielt: „Er hatte meine Mutter nach der Trennung noch 25 Jahre lang finanziell unterstützt und ihr eine Eigentumswohnung gekauft.“
Gefühl, als habe sie die Mutter verloren
Dieser „Ungehorsam“ - die Loyalität zum Vater - führte zum Bruch mit der Mutter. „Sie verzieh mir nicht und fühlte sich von mir verraten“, sagt Claudia W., „wir hatten von dem Moment an kaum noch Kontakt, weil sie es nicht zuließ, und wenn wir uns dann doch mal sahen, war die Stimmung so unterkühlt, dass ich nicht mehr ,Mami‘ zu ihr sagen und sie nicht mehr umarmen konnte.“ Die Mutter habe sich regelrecht versteinert gegeben, obwohl sie bis zum Tod des Vaters immer ein sehr gutes Verhältnis zueinander gehabt hatten. „Ich hatte das Gefühl, als hätte ich meine Mutter verloren.“ W.s Versuche, ihrer Mutter zu sagen, dass sie nur eine Krise und ansonsten immer eine liebevolle Beziehung zueinander gehabt hätten, scheiterten.
Als ihre Mutter einige Jahre später im Sterben lag, rief W.s Bruder sie an, und Claudia W. eilte sofort an das Bett ihrer Mutter. Und da waren die beiden nun, allein miteinander, zum letzten Mal. Die Mutter, erzählt W., habe mit geschlossenen Augen dagelegen, sei aber noch bei Bewusstsein gewesen. „Ich näherte mich ihr, strich mit dem kleinen Finger ganz vorsichtig über ihren Handrücken und sagte: ,Ich bin da. Wenn du möchtest, dass ich gehe, zeig es mir. Ansonsten bleibe ich und verlass dich nicht.‘“
Dürfen sterbende Eltern Kindern die Versöhnung verweigern?
Da habe die Mutter die Augen geöffnet. Also habe sie ihre Hand ganz sanft auf den Handrücken der Mutter gelegt und gesagt: „Ist das nicht schlimm, dass ich dich jetzt nur so anfassen kann? Ich finde das ganz schrecklich, dass ich dich jetzt nicht umarmen kann. Wenn du möchtest, dass ich dich in dem Arm nehme, zeig es mir irgendwie.“ W. war von Gefühlen überwältigt und sagte unter Tränen: „So kannst du mich doch nicht gehen lassen, ich muss doch weiterleben.“ Und dann habe ihre Mutter eine Reaktion gezeigt. Sie habe den Mund triumphierend verzogen, als wolle sie sagen: „Ich hab dich gekriegt.“ Dann sei sie gestorben. „Das war vor sechs Jahren“, sagt Claudia W. und fängt an zu weinen.
Dürfen die sterbenden Eltern den Kindern die Versöhnung verweigern? Haben Kinder ein Recht auf Versöhnung mit ihren sterbenden Eltern? Oder sollte man als erwachsenes Kind den Tatsachen ins Auge blicken und eine offensichtlich gescheiterte Beziehung im Angesicht des Todes gar nicht erst zu kitten suchen? Hat man überhaupt eine Chance, so eine Beziehung auf dem Totenbett noch wiederherzustellen? Und was passiert, wenn das nicht gelingt?