Helferin berichtet von Lesbos : Im Elend von Moria
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Geflüchtete laufen durch den Nachfolger des Flüchtlingscamps Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Bild: Privat
Auf der Insel Lesbos leben rund 7500 Menschen im Nachfolger des abgebrannten Flüchtlingslagers Moria. Fließendes Wasser gibt es nicht und auch der Strom fällt immer wieder aus, berichtet eine freiwillige Helferin.
Wer Glück hat, wohnt mit seiner Familie zusammen. Wer allein ins Lager kommt, teilt sich die Behausung oftmals mit Fremden. Bis zu 130 Menschen teilen sich ein Zelt: Stockbett an Stockbett; Privatsphäre hat nur, wer ein kleines Campingzelt auf seinem Bett aufgeschlagen hat. Wenn es regnet, stehen die Zelte im Schlamm.
So schildert die 26 Jahre alte Anina die derzeitige Wohnsituation im Nachfolger des im September abgebrannten Flüchtlingslagers Moria auf Lesbos. Von Ende Oktober bis Mitte Dezember hat Anina, die hier nicht mit dem vollen Namen genannt werden möchte, sieben Wochen als Helferin auf der griechischen Insel verbracht. Gegen den schlammigen Boden soll jetzt zumindest in einer Zone des Lagers etwas getan werden. Doch dafür müssen einige Familien temporär aus ihren Zelten ausziehen. Eine Situation, die Eltern und Kindern mal wieder entwurzelt und ihnen das nimmt, was man momentan vielleicht ein wenig Normalität in dem Lager nennen kann.
Zusammenarbeit von Freiwilligen und Geflüchteten
Weil sie die neu gewonnene Zeit nach ihrem Abschluss sinnvoll nutzen wollte, war die junge Frau sieben Wochen lang für die Organisation „Movement on the Ground“ auf Lesbos, die auf die Zusammenarbeit von Geflüchteten und Helfern von außen baut: Rund 200 „Resident Volunteers“, das sind vor allem junge Männer, die aktuell auf der Insel leben, arbeiten mit knapp 15 „International Volunteers“, die wie die 26-Jährige nach Lesbos gereist sind, um dort als Freiwillige zu helfen. Während die Freiwilligen nur einige Wochen auf der Insel bleiben, sind einige der Geflüchteten teilweise schon zwei Jahre oder länger Teil der Organisation. Die Aufgabenverteilung vor Ort richtet sich danach, wer welche Vorerfahrungen mitbringt. Wer in seiner Heimat im Baubereich tätig war, kann sich beispielsweise im „Construction Team“ einbringen und sich an der Optimierung des Camps beteiligen. Die jüngeren Geflüchteten fungieren oft als Übersetzer.
Sie selbst habe bei der Essensausgabe geholfen und etwa die Listenführung übernommen, erzählt Anina. „Movement on the Ground“ betreut zwei der im Camp organisierten „Food Lines“, in denen die Menschen mit Nahrungsmitteln und fertigen Mahlzeiten versorgt werden. Morgens und mittags darf jeweils ein Bewohner pro Zelt zur Ausgabe kommen und für alle Menschen, die mit ihm leben, Frühstück, Mittag- und Abendessen abholen. Die Ausgabe ist inzwischen so gut organisiert, dass in nur 45 Minuten Essen an 2000 Menschen verteilt wird. Allerdings reichen die fertigen Mahlzeiten oft nicht aus, berichtet Anina: Weil diese knapp bemessen, zu eintönig – es gebe eine Handvoll Mahlzeiten, die sich abwechseln – und kaum gewürzt seien, versuchen viele Bewohner selbst vor ihren Zelten zu kochen. Doch oft falle der Strom aus.
Auch die Hygiene-Situation beschreibt sie als schwierig: Im Camp gebe es noch immer kein fließendes Wasser. Die Menschen müssten deshalb auf Dixiklos und Eimerduschen ausweichen, berichtet Anina. Letztere könne man sich wie die mobilen Toilettenkabinen vorstellen, in denen man sich mit einem mitgebrachten Eimer mit kaltem Wasser waschen kann, um wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu haben. Mitte Dezember konnten die Organisationen vor Ort zumindest ein paar Warmwasserduschen für das Camp realisieren: 36 für 7500 Menschen. In den Monaten zuvor habe es nur kaltes Wasser gegeben, und das trotz der fallenden Temperaturen: Ende November, Anfang Dezember liegen die Temperaturen auf Lesbos tagsüber bei etwa 15 Grad, nachts wird es deutlich kälter, ein starker Wind fegt vom Meer über das Camp. Damit jeder an die Reihe kommt, darf jede Person nur einmal die Woche warm duschen.
Obwohl eine kleine NGO gemeinsam mit Geflüchteten ein paar Wasserstationen aufgebaut habe, an denen es kleine Wasserkanister und Seife zum Händewaschen gibt, ist ein Schutz gegen das Coronavirus kaum möglich. Die Wohnsituation und die Schlangen bei der Essensausgabe tun dann ihr Übriges.
Möglichkeiten, das Lager zu verlassen, haben die Bewohner seit Beginn der Corona-Pandemie kaum, sagt Anina. Die Polizei kontrolliere streng: Erlaubt sind der Gang zum Lidl, der in derselben Straße liegt, zum Arzt und zur Bank. Spaziergänge oder andere Aktivitäten außerhalb des Camps sind untersagt. Sie hat deshalb an einem Activity Book mitgearbeitet, das unbegleiteten Minderjährigen Anregungen geben soll, wie sie die viele Zeit auf der Insel verbringen können.
An die Umstände vor Ort habe sie sich erschreckend schnell gewöhnt, sagt Anina. Seit Mitte Dezember ist sie zurück in Deutschland. Bei der Arbeit und den damit verbundenen Routinen im Lager sei die Gesamtsituation schnell aus dem Fokus geraten: „Man unterhält sich mit den Kindern, spielt mit ihnen und blendet aus, dass sie alle mit dem Boot gekommen sind und was sie durchgemacht haben.”
Anina selbst hat nicht im Camp übernachtet, sondern sich im Ort Mytilini ein Zimmer mit zwei weiteren Freiwilligen geteilt. Mit ihnen konnte sie sich auch über das Erlebte austauschen. Um die Unterkunft und die Kosten habe sie sich nach der Bewerbung und einem Vorstellungsgespräch bei der Organisation eigenständig gekümmert. Im Monat habe sie 450 Euro ausgegeben, hinzu kamen die Flugtickets und Gepäck: Helfen ist eben auch immer eine finanzielle Sache.
Ein Ereignis sei ihr besonders eindrücklich im Gedächtnis geblieben, sagt sie. Mitte November erreichte das Camp die Nachricht, dass ein sechs Jahre alter Junge vor Samos ertrunken ist. Ein Kind, das sich Anina nur zu gut vorstellen kann: „Ich habe täglich mit Kindern im gleichen Alter gespielt, die mit ihren Eltern die gleiche Route genommen und es geschafft haben.” Berichte über die Situation der Menschen in Moria verbinde sie inzwischen mit Gesichtern, mit Namen und Menschen, die sie persönlich kennen gelernt hat und zu denen sie auch jetzt noch Kontakt hält. Zurück in Deutschland fühle sie sich oft hilflos.
Es kann auch anders gehen
Dass es auch anders geht als im Moria-Nachfolger zeigt das kleine Lager Kara Tepe unmittelbar neben dem neuen Camp, in dem sie ihre ersten Arbeitstage verbracht hat. Dort leben etwa 900 Menschen, die vulnerabelsten Gruppen und Familien sind dort untergebracht. Statt Zelte stehen ihnen Container zur Verfügung, die bei Regen nicht im Schlamm versinken, weil der Boden mit Kies bedeckt ist. Es gibt ein kleines Kleidungsgeschäft, in dem sich jede Familie alle drei Monate neu einkleiden darf; ein Zirkuszelt mit einem kleinen Kino für die Kinder; Bildungsangebote von verschiedenen Organisationen für Teenager und Erwachsene. „Von beiden Lagern kann man direkt in das jeweils andere sehen. Die deutlich sichtbaren Unterschiede waren schmerzhaft”, sagt Anina. Wenn es doch ein Flüchtlingscamp geben müsse, dann eher eines wie das kleine Kara Tepe.
Obwohl die Organisation des neuen Lagers vom System des alten Morias profitiert, ist ein Ende des Elends dort kaum absehbar. Hilfen werden erschwert, Genehmigungen brauchen zu lange, die Arbeiten gehen teilweise nur schleppend voran. Anina fragt sich, ob das ein bewusstes Vorgehen ist und die schlechten Zustände im Lager der Abschreckung dienen sollen. Denn obwohl das Lager nur eine temporäre Lösung sein und bald ersetzt werden soll, sieht sie keinen Grund, die Umstände bis dahin nicht zu verbessern. Eine konkrete Lösung für die Menschen vor Ort zu formulieren falle ihr schwer, doch eines wisse sie sicher: „So wie es jetzt ist, ist das neue Moria nicht menschenwürdig.”