Fake News nach Amoklauf : Der Attentäter, der keiner war
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Dass sich die Netz-Detektive nicht selbst am Tatort aufhalten, sondern im sicheren Zuhause, baue eine mentale Schutzmauer auf, hinter der sie sich in Ruhe mit dem Fall beschäftigen könnten. (Symbolbild) Bild: picture alliance / All Canada Ph
Nach dem Amoklauf in Heidelberg suchen viele Menschen offenbar ein Gesicht zur Schreckenstat. Tobias L. fällt dem zum Opfer und wird fälschlicherweise für den Täter gehalten. Doch warum wird man zum selbsternannten Netz-Detektiv?
Tobias L. kam gerade aus seiner Mittagspause zurück, als die erste von vielen Nachrichten an diesem Tag in seinem Instagram-Postfach einging. Sein Vor- und Nachname stand in der Nachricht, ein Foto von ihm an einem Filmset, das ihn mit einem Scharfschützengewehr zeigt, und: „mutmaßlicher Attentäter“. Der Fünfundzwanzigjährige hielt das Ganze zunächst für einen Witz. Bis er erfuhr, dass es in Heidelberg tatsächlich einen Amoklauf gab – und er im Netz fälschlicherweise beschuldigt wurde, der Täter zu sein.
„Als ich gemerkt habe, dass mein Handy vor lauter Nachrichten nur noch vibriert, habe ich schnell eine Klarstellung in meinen Instagram-Stories hochgeladen“, sagt der Hobby-Schauspieler aus Baden-Württemberg im Gespräch mit der F.A.Z. Tobias L. rief die Polizei, Tausende Menschen sahen sich in der Zwischenzeit seine Stellungnahme auf Instagram an. „Mein Herz hat wie wild gerast und mir hat der Kopf gedampft: Dass Menschen auf dem Blut anderer schlechte Scherze bauen und mich da reinziehen, das ist doch schrecklich.“
Tobias L. meint zu ahnen, wer dahinter stecken könnte. Denn der gelernte Mediengestalter sei schon zuvor unter anderem wegen seiner Internetpräsenz – wenn auch in geringerem Maße – Opfer von Hassnachrichten gewesen. „Nicht so schlimm, nur nervig“, sagt er, und nichts, weswegen er die Polizei gerufen hätte. „So typische Kommentare eben: ‚Geh dich umbringen‘ oder ‚Wichser‘.“ Frühere Freunde könnten es gewesen sein, die nun die Falschnachricht in die Welt gesetzt hätten. Ein Indiz dafür sei, dass einer von Tobias L.‘s Freunden in den sozialen Medien als vermeintlicher Attentat-Komplize benannt wurde.
Eine Mischung aus Neugierde, Spannung und Angst
Doch unabhängig von den Urhebern der Falschnachricht um Tobias L. waren nach dem Amoklauf in Heidelberg am Montag offenbar viele Menschen im Netz auf der Suche nach dem Attentäter. Viele, die Tobias L. nie kennengelernt hatten, aber glaubten, diesen Attentäter in ihm gefunden zu haben.
Regine Frener weiß die Begeisterung für Kriminalfälle zu erklären. „Es ist eine Mischung aus Neugierde und Spannung, aber auch die Angst, selbst Opfer eines solchen Verbrechens zu werden, die fesselnd auf uns wirken“, sagt die Medienpsychologin, die an der Universität Hohenheim forscht. Auch deshalb würden sich True-Crime-Podcasts sowie fiktive Verbrechensszenarien im Fernsehen großer Beliebtheit erfreuen. „Da kann auch ein kompetitiver Gedanke dahinterstecken, etwa wie beim „Tatort“: Wer findet den Täter zuerst?“
Für viele Menschen spiele aber auch der Glaube an eine gerechte Welt eine Rolle. „Menschen wollen, dass solche Fälle aufgeklärt werden, andernfalls sind sie unzufrieden“, sagt Frener. „Sie wollen mitfiebern und, auch wenn Außenstehende das in den seltensten Fällen können, zur Lösung beitragen.“ Dass sich die Netz-Detektive nicht selbst am Tatort aufhalten, sondern im sicheren Zuhause, baue zudem eine mentale Schutzmauer auf, hinter der sie sich in Ruhe mit dem Fall beschäftigen könnten.
Anders als etwa bei Kriminaldelikten wie Steuerhinterziehung, sei ein Amoklauf an einer Universität für Menschen zudem gedanklich greifbarer und dadurch interessanter. Je mehr man sich mit den betreffenden Personen identifizieren könne, desto eher sei man emotional in den Fall involviert. „Dieser Ermittlungsdrang selbst ist noch nichts Schlechtes, im Gegenteil: Das ist ein gesunder Charakterzug und zeigt Neugierde an der Gesellschaft“, sagt Frener.
Likes und Kommentare als Belohnung
In den USA existieren ganze Internet-Communities, die sich mit der Aufklärung von Verbrechen und dem Aufspüren vermisster Personen beschäftigen; vor allem ungelöste Fälle interessieren sie dabei. „Websleuths“ nennt sich eine dieser Websites, die seit mehr als 20 Jahren besteht und auf der Betreiberin Tricia Griffiths regelmäßig zu stundenlangen Live-Videos rund um Kriminalfälle einlädt. In fast 3000 verschiedenen Threads tauschen die über 185.000 dort registrierten Nutzer Dokumente, Theorien und vermeintliche Beweisstücke aus.