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Leiter der Passbehörde : Der heimliche König von Kabul

  • -Aktualisiert am

Die neuen Throne Afghanistans besteigt man, wenn man sich den Machthabern anbiedert – und dazu noch lesen, schreiben, einen Computer bedienen kann. Bild: Andrea Jeska

Es sind Massen, die Afghanistan verlassen wollen – nicht nur wegen der Taliban. Aber dafür braucht es einen Reisepass. Das macht den Leiter der Passbehörde zu einem mächtigen Mann: Die Schlange vor seinem Turm wird täglich länger.

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          Von 10.30 bis 11.30 Uhr frühstückt der König, auch wenn die Reihe der Bittsteller um den Block reicht. Dafür zieht er sich in sein Privatgemach zurück, ein mit glitzernden Sesseln und verzierten Tischchen möblierter Raum, an dessen Wand riesengroß die weiße Fahne des is­lamischen Emirats Afghanistan hängt.

          Ein Diener bringt Brot und Reis mit Huhn. Mit den Fingern formt der König den Reis zu Bällchen, tunkt diese in Soße, bedeckt sie mit einem Hähnchenstück und schiebt sie in den Mund. Die Soße tropft ihm über das Kinn. Nach dem letzten Bissen schickt er den Diener, Wasser und ein Tuch zur Reinigung zu holen. Dann erst greift er nach seinem Mobiltelefon, das ununterbrochen geklingelt hat, und nimmt die Huldigungen jener entgegen, die sich von der Nähe zu ihm Vorteile versprechen. Erfüllt dem einen seine Wünsch­e, fertigt den anderen mit scharfen Worten ab, be­schwert sich über die Bürde seines Amtes: „Tag und Nacht wollt ihr etwas von mir. Hilf mir, hilf mir! Bin ich denn Gott und kann allen Verzweifelten helfen?“

          Der König hört auf den Namen Muhammad, aber das ist nicht wichtig, denn schon nächste Woche ist vielleicht ein anderer im Amt. Die neuen Throne Afghanistans besteigt man, wenn man sich den Machthabern anbiedert und dazu noch lesen, schreiben, einen Computer bedienen kann: Fertigkeiten, die denen, die gestern noch Krieger waren und nun das Land leiten, oft abgehen. Wer eine AK47 laden und bedienen kann, kann noch lange keinen Staat aufbauen und leiten. Doch reicht eine falsche Entscheidung, eine Übersteigung der Kompetenzen – und schon fliegt man hinaus aus dem Karussell der Postenbesetzung.

          Eine Kulisse, wie im Film

          Natürlich ist der König nie gekrönt worden, und sein Audienzsaal, in dem er die Bittsteller empfängt, jeden Tag ein paar Hundert, befindet sich in einem Turm mit einer Eisentreppe, an deren Fuß ein Gitter den Weg versperrt. Nur eine schmale Tür führt durch dieses Gitter, nicht breiter als ein einzelner Mensch. Davor steht die Schildwache, drei bärtige, langhaarige Männer mit Kalaschnikows und Schlagstöcken, die aussehen, als seien sie Statisten in einem Piratenfilm. Man könnte sie belächeln, bestimmten sie nicht über Wohl und Wehe, ja, vielleicht sogar Leben und Tod. Ohnehin kann niemand, der am Fuß dieser Treppe landet, noch lächeln. Nicht nach Tagen, manchmal Wochen des Wartens, nach Nächten, in denen man vor den Toren schlief, die Antragsformulare an sich gedrückt wie auch die letzten paar schmutzigen Geldscheine, die man gern hergeben will, wenn man dafür endlich das ersehnte Dokument bekommt: einen Reisepass, der es einem erlaubt, Afghanistan zu verlassen.

          Im kollabierenden Afghanistan bedeutet ein Reisepass die Möglichkeit, einer Zukunft zu entkommen, die dunkel und freud­los ist.
          Im kollabierenden Afghanistan bedeutet ein Reisepass die Möglichkeit, einer Zukunft zu entkommen, die dunkel und freud­los ist. : Bild: Andrea Jeska

          In einer Ära, von der man heute in Afghanistan spricht, als sei sie eine goldene Zeit gewesen, als man noch glaubte, die Soldaten des Westens brächten Frieden, war der König ein Niemand. Ein Beamter, der tagaus, tagein Pässe stempelte, Urkunden ausstellte. Der dann aber, als die Ta­liban eine neue Regierung bildeten und die staatlichen Institutionen wieder öff­neten, zum Leiter des Passamts befördert wurde. Eine Stellung, so machtvoll, dass sie einen adelt, ganz ohne Krone. Denn im kollabierenden Afghanistan bedeutet ein Reisepass die Möglichkeit, einer Zukunft zu entkommen, die dunkel und freud­los ist. Vor allem aber: der womöglich schlimmsten humanitären Katastrophe der Gegenwart. 22,8 Millionen Menschen im Land, so schätzt das Welternährungsprogramm, sind von Hunger bedroht, 2,4  Millionen davon werden dem Tod kaum entgehen können, was statistisch ge­sehen bedeutet: die Alten, die Kranken und die Kinder.

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