Das Mädchen von Attendorn : Kann man eine Kindheit nachholen?
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Der Wald um Attendorn im Sauerland: Ihn kann das Mädchen nun erstmals mit eigenen Augen sehen. Bild: dpa
Vermutlich weil sie sich das Sorgerecht nicht mit ihrem Ex-Freund teilen wollte, schirmte eine Mutter in Attendorn ihre Tochter komplett von der Außenwelt ab. Welche Chancen gibt es für das Kind, Verpasstes aufzuholen und Traumatisches hinter sich zu lassen?
Wenn sich der Herbst wieder sanft über ein Jahr legt, ist das im Sauerland mit seinen weiten Wiesen und Wäldern immer ein besonderes Ereignis. Wie groß muss der Herbstanfang 2022 erst für das acht Jahre alte Mädchen aus Attendorn gewesen sein? Am 23. September darf es das erste Mal, seit es denken kann, das Haus der Großeltern verlassen – auf so wackeligen Beinen, dass es auf der Treppe von einem Polizisten gestützt werden muss, wie es heißt. Zum ersten Mal setzt es sich in ein Auto. Erstmals sieht das Kind mit eigenen Augen Wiesen, Wälder. So beglückend wie verwirrend muss das gewesen sein. Denn der Herbstanfang 2022 war auch ein abrupter Aufbruch weg von Mama, Oma, Opa.
Es ist ein aufsehenerregendes, bedrückendes Schicksal: Seit es eineinhalb Jahre alt war, wurde das Mädchen von seiner Mutter in dem mitten in Attendorn gelegenen Häuschen konsequent von der Außenwelt abgeschirmt. Die Mutter und die Großeltern – das waren sieben Jahre lang die einzigen Menschen, die es kannte. Sie ließen das Kind weder in den Kindergarten, noch schulten sie es ein. Und weil das Mädchen noch nicht einmal im Garten toben durfte, ist sein Bewegungsapparat so eingeschränkt, dass es auf der Treppe Mühe wie ein Greis hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Lesen, Schreiben und Rechnen lernte das Mädchen in der endlosen häuslichen Isolation immerhin. Jeder soziale Kontakt außerhalb der eigenen vier Wände aber blieb ihm verwehrt. Das klingt wie das böse Experiment eines durchgeknallten Verhaltensforschers. Wer tut seiner Tochter, seinem Enkelkind so etwas an? Mutter und Großeltern haben sich bisher nicht zur Sache äußern wollen.
Was will das Mädchen?
Die Staatsanwaltschaft Siegen ermittelt gegen die drei wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung Schutzbefohlener. Der Umgang mit dem nun in einer Pflegefamilie lebenden Kind ist ihnen einstweilen verwehrt. Einerseits ist das selbstverständlich. Andererseits: Für das Mädchen wird die Trennung schwer sein. Schließlich hatte es in seiner bisherigen eng begrenzten Welt nur zu diesen drei Menschen eine emotionale Beziehung. Hinweise auf körperliche Misshandlung oder Mangelernährung fanden Mediziner zudem nicht. Im zuständigen Jugendamt des Kreises Olpe sieht man diesen Kindeswohl-Zwiespalt. „Was will das Mädchen?“ – das sei die handlungsleitende Frage, heißt es von der Behörde.
„Entscheidend ist, dass mit dem Mädchen liebevoll und behutsam umgegangen wird, dass es eine feinfühlige, reife Bezugsperson an der Seite hat, dass ihm kindgerecht erklärt wird, warum was getan wird“, sagt Silvia Schneider, die den Lehrstuhl für klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Ruhruniversität Bochum innehat. Ihr Ehemann Jürgen Margraf, der dort klinische Psychologie und Psychotherapie lehrt, ergänzt, wenn das Kind von seinen Angehörigen nicht gequält wurde, sei es mit Sicherheit wichtig, den Kontakt zu halten. „Aber bisher scheint nicht klar zu sein, welche Konfliktkonstellation vorliegt. Was genau ist mit der Mutter, den Großeltern los, und welche Rolle spielt eigentlich der Vater der Kleinen?“
Eine tiefe und konsequente Lebenslüge
Nach bald zwei Monaten zeichnen sich auch für die Staatsanwaltschaft lediglich die Umrisse des Falls ab. Der Mutter scheint es darum gegangen zu sein, um jeden Preis dem von ihr getrennt lebenden Lebenspartner den Zugang zur gemeinsamen Tochter zu verweigern. Über sieben Jahre gedeckt von ihren Eltern und durch spezielle Umstände begünstigt, scheint sie sich immer tiefer und konsequenter in eine Lebenslüge verstrickt zu haben. Ausgangspunkt war offenbar der sich 2015 und 2016 über mehrere Monate hinziehende Sorgerechtsstreit. Schon zu Beginn des Verfahrens muss der Mutter klar gewesen sein, dass sie das Mädchen nicht ganz für sich bekommen würde. Jedenfalls gab sie für sich und ihre Tochter bei Gericht eine Wohnadresse in Kalabrien an, was deshalb nicht abwegig erschien, weil ihre Familie aus Süditalien stammt. Zum Richterspruch erschien sie dann gar nicht mehr. Den Behörden fiel auch deshalb nichts auf, weil das Kind nach den Daten des Einwohnermeldeamts mit seiner Mutter ins Ausland gezogen war, lange bevor es schulpflichtig wurde.